Die eisblaue Spur
vielleicht
anders aus, niemand hat mehr Angst vor einem Tupilak, und die Leute
trauen sich, über die Geschichte zu reden. Das, was Sie
gelesen haben, wird bestimmt irgendwann korrigiert. Hier in Kulusuk
interessiert sich niemand besonders dafür, ich weiß es
nur, weil ich mal in der Gegend war. Meine Mutter wollte, dass ich
die alte Jagdgemeinschaft kennenlerne. Aber Kulusuk ist mir schon
altmodisch genug, obwohl unsere Stadt viel moderner ist als
Kaanneq. Hier gibt es wenigstens
Touristen.«
Dóra bedankte sich bei
dem Mädchen und beschloss, das Plakat über den Tupilak zu
lesen; sie wollte sowieso in die Lobby, um ins Internet zu gehen.
Auch wenn alte Gruselgeschichten eher nichts mit dem Fall zu tun
hatten, war die Sache interessant.
Friðrikka hatte während
der gesamten Unterhaltung geschwiegen, aber gut zugehört. Sie
war blass und müde und wirkte immer noch mitgenommen.
»Glaubst du, dass sie Oddný Hildur finden?« Die
Geschichte über die Geister, die Verstorbene ins eisblaue
Verderben zogen, hatten sie offenbar verunsichert.
»Bestimmt.«
Dóra klang sehr überzeugend, obwohl sie sich alles
andere als sicher war. Oddný Hildur konnte überall
sein, unabhängig davon, woran sie gestorben war. Draußen
gab es bestimmt genug wilde Tiere, die sich ein kleines Zubrot
nicht entgehen lassen würden. Dóra fielen zwar auf
Anhieb keine Aasfresser ein, und sie hatte keine Ahnung, ob
Eisbären oder andere wilde Tiere auch fremde Beute
fraßen, aber da es nur wenig Nahrung gab, war das durchaus
denkbar. Es war jedenfalls höchst unwahrscheinlich, dass die
Überreste der Frau gefunden würden.
»Wir müssen sie nach
Hause bringen und dort beerdigen. Sie kann doch nicht
hierbleiben.« Friðrikka musterte die bunte
Tischdecke.
»Und was ist mit Bjarki
und Halldór?« Eyjólfur saß am Ende des
Tisches und starrte aus dem Fenster ins Schneegestöber.
»Müssen die nicht auch nach Hause gebracht
werden?«
Die beiden wären sich
vermutlich noch nicht einmal über die Zahl der Finger an einer
Hand einig. »Natürlich gilt das auch für die
Bohrmänner. Friðrikka hat das doch nur so gesagt.«
Dóra wollte sich den Tag nicht von den Streitereien der
beiden vermiesen lassen. Sie schaute wieder auf die Wanduhr und
ärgerte sich über die Zeitverschiebung. Ihre Kinder waren
schon in der Schule, und sie musste bis zum Nachmittag warten, um
mit ihnen sprechen zu können. Dóra spürte ein
überwältigendes Verlangen, ihre Stimmen zu hören.
»Ich gehe mal ins Internet und suche Arnars Telefonnummer
raus.« Sie nahm die Serviette vom Schoß und stand auf.
Sollten sie sich doch so lange streiten, wie sie
wollten.
Im isländischen
Telefonverzeichnis gab es etwa zehn Arnar Jóhannessons, aber
keiner von denen war Ingenieur. Dóra bat Matthias, die
Nummer über die Bank zu erfragen, und informierte sich dann
über Tupilaks. Auf dem Plakat waren nur ein paar Absätze
und ein Bild des Ungeheuers, das der Figur, die sie gefunden
hatten, nicht ähnelte, sondern eher wie ein knochiger
Hundekörper mit Menschengesicht aussah. Dem Text nach handelte
es sich um ein Wesen, das Zauberkundige aus Teilen von toten
Tieren, Vögeln und menschlichen Knochen herstellten, wobei
Knochen von Kindern angeblich am wirkungsvollsten waren. Die
Anfertigung fand an einem geheimen Ort in der Natur statt, wo der
Schamane das Ungeheuer zum Leben erweckte, indem er es mit seinem
Geschlechtsorgan berührte. Anschließend wurde der
Tupilak dem Meer übergeben, von wo aus er sein Opfer
aufspürte und tötete. Allerdings hatte die Sache einen
Haken, denn das Wesen war unberechenbar und wandte sich manchmal
gegen seinen Schöpfer oder gegen andere, die sich ihm in den
Weg stellten, vor allem, wenn der Feind ein mächtigerer
Schamane war als sein Schöpfer. Zudem konnte der Tupilak
Krankheiten hervorrufen und ganze Ortschaften mit Seuchen
überziehen. Dieses Wesen passte also perfekt zu der Geschichte
über den Tod der ersten Siedler von Kaanneq. Früher
hatten Tupilaks die Einheimischen in Angst und Schrecken versetzt,
aber heute bildeten sie nur noch die Grundlage unterhaltsamer
Volkssagen für Touristen. Da keine ursprünglichen
Tupilaks erhalten waren, stellten die Grönländer seit der
Jahrhundertwende 1900 etwas her, von dem sie meinten, dass es dem
Ungeheuer ähnelt. Früher hielten die Leute den Tupilak
für so gefährlich, dass sie ihn nach der Erfüllung
seiner Aufgabe nicht behielten. Man nahm an, dass sie ihn in der
Erde oder im
Weitere Kostenlose Bücher