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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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hatten. Bis auf das Summen der Kraftwerke
war alles still. Er hielt sich in einiger Entfernung zu den
Gebäuden, weil er das Flutlicht nicht auslösen wollte. Da
es windstill war, hatte er die Männer zwar reden hören,
aber ihre Worte nicht verstanden. Sie waren in zwei Trupps
gekommen; erst zu fünft und dann noch einmal drei Männer
mit Hunden, allerdings keine Schlittenhunde. Der Jäger wusste
nicht, was die Tiere dort zu suchen hatten. Es schienen keine
Haustiere zu sein, wie man sie in der Stadt hielt, sondern
Arbeitstiere, aber ihm war nicht klar, was sie machen sollten. Sie
hatten zu kurzes Fell und zu lange, dünne Ohren, um es bei
dieser Witterung lange draußen aushalten zu können.
Igimaq war froh, seine Hunde in angemessener Entfernung
zurückgelassen zu haben. Sie hätten fremde Hunde nicht
einfach geduldet, ohne ihnen lautstark klarzumachen, mit wem sie es
zu tun hatten. 
    Im Gegensatz zu seinen Hunden,
die immer wussten, wie sie sich in einer neuen Situation verhalten
sollten, wusste Igimaq weder ein noch aus. Das passierte nur, wenn
man sich auf andere verließ. Als die Pläne für das
Bergwerk bekanntgeworden waren, hatte sein Freund Sikki ihm
versprochen, dass die Arbeiter das verbotene Gebiet nur
durchqueren, aber nicht dort arbeiten würden. Igimaq hatte ihm
geglaubt, obwohl sein Blick nicht ehrlich gewesen war. Als das Camp
am Rande des Gebiets errichtet wurde, hatte Igimaq wieder mit
seinem Freund gesprochen und wieder das Versprechen erhalten, es
sei alles in Ordnung, er werde den Fremden sagen, dass sie nicht
weiter nach Norden vordringen, sondern sich südlich des Camps
halten sollten. Wieder derselbe Blick – und Igimaq hatte
Sikkis Worten abermals mehr Glauben geschenkt als dem, was seine
Augen sagten. Nun hatte sich die Geschichte zum dritten Mal
wiederholt, und obwohl sich Igimaq diesmal nicht täuschen
ließ, war es zu spät. Es gab kein Zurück
mehr. 
    Hätte Igimaq schon bei der
ersten Lüge reagiert, hätte sich die Sache vielleicht
anders entwickelt. Aber wie in seiner Generation üblich,
entsprach es nicht seinem Charakter und seiner Erziehung, sich zu
streiten. Das war schon immer so gewesen; das Zusammenleben in
kleinen Gemeinschaften gestattete keinen Streit. Man verachtete
diejenigen, die ihre Stimmen erhoben oder miteinander diskutierten.
Der einzige Weg, sein Missfallen zum Ausdruck zu bringen, war zu
schweigen, denn in Wut gesprochene Worte konnten zu Eskalation und
Feindschaft führen und die Gemeinschaft gefährden.
Deshalb gab es in der grönländischen Sprache keine
Schimpfworte, und Igimaq würde niemals auf Dänisch
fluchen. In diesem Fall wäre es jedoch besser gewesen, sofort
zu reagieren, obwohl das seiner Überzeugung widersprach. Er
hatte gelernt, seinen Vorvätern bedingungslosen Respekt
entgegenzubringen. Er hatte von ihnen die Verantwortung
übertragen bekommen, Menschen von dem Gebiet fernzuhalten. Er
und sein alter Freund Sikki. Und jetzt hatten sie beide versagt.
Igimaq konnte Sikki nicht allein die Schuld geben.
    Er versuchte, sich darüber
klarzuwerden, was nun geschehen würde. Er kannte die Polizei
kaum, denn sie war in dieser Gegend ein seltener Gast. Im Laufe der
Zeit war einiges passiert, was die Polizei zweifellos gern
untersucht hätte, aber die Dorfbewohner fällten lieber
ihre eigenen Urteile, wogen Schuld und Unschuld ab und entschieden
über eine angemessene Strafe. Oft genügte es, dass der
Schuldige mit der Schande leben musste, Unrecht getan zu haben,
aber Igimaq erinnerte sich auch an einen Fall in seiner Jugend, bei
dem ein Mann, der seinen Sohn auf schreckliche Weise ermordet und
keine Reue gezeigt hatte, aus der Gemeinschaft verstoßen
worden war. In unregelmäßigen Abständen gelangten
Nachrichten über ihn ins Dorf, die alle auf dasselbe
hinausliefen: Wenn die Leute erfuhren, wer er war, vertrieben sie
ihn aus ihren Dörfern. Schließlich hörte man nichts
mehr von ihm und ging davon aus, dass er irgendwo draußen in
der Ödnis gestorben war. Die Polizei hätte so etwas nie
toleriert, aber diese Lösung war die einzig Richtige. Der Mann
hatte im Gefängnis nichts verloren. Grönländer
durfte man nicht einsperren. Igimaq würde durchdrehen, wenn
man ihn daran hindern würde, die kühle Luft einzuatmen,
und seine Augen würden erblinden, wenn man ihnen den Blick auf
die unendlichen Weiten versagen würde.
    Nein, die Polizei hatte hier
nichts zu suchen, auch wenn vier von ihnen Landsleute waren. Aber
sie mussten mehr Dänen als

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