Die Eiserne Festung - 7
Merlins Eintreffen in Charis hatte sich die Hochschule allmählich dem angenähert, was Merlin die ›Methodik des wissenschaftlichen Arbeitens‹ nannte. Doch die Bedingungen, die Eric Langhorne und Adorée Bédard durch die Heilige Schrift geschaffen hatten, machten den Prozess ... schwierig. Gelinde gesagt. Vor allem aber gefährlich.
Als Langhorne und Bédard die Kirche des Verheißenen ersonnen hatten, war beiden eines bewusst gewesen: Es würde niemals ausreichen, dem Volk zu erklären, was Gott ihnen verbiete, um die Neugier des Menschen einzudämmen. Deswegen hatten sie wundersame Erklärungen für die unfassbare Bandbreite der Phänomene vorgelegt, die ansonsten gewiss den natürlichen Wissensdurst der Menschheit angestachelt hätten. Der Mensch neigte nun einmal dazu, herausfinden zu wollen, warum etwas geschah. Diese Erklärungen trugen das Imprimatur Langhornes und Bédards, der unfehlbaren Erzengel - und damit Gottes. Dadurch wurden bemerkenswert erfolgreich Warum-Fragen verhindert. Schließlich zweifelte man, wenn man diese Erklärungen anzweifelte, auch Gott selbst an. Und das war selbstverständlich undenkbar für jeden, der unter der Ägide der Heiligen Mutter Kirche und ihrer Inquisition aufgewachsen war.
Doch gleichzeitig war die Saat für eben jene Art Fragen schon in der Heiligen Schrift selbst gelegt: in Form der Anweisungen, die erforderlich gewesen waren, um die Kolonisierung einer Welt zu ermöglichen, die ursprünglich nicht für Menschen vorgesehen war. Merlin hatte diesen Prozess ›Terraformierung‹ genannt, und für eine Welt, auf der keinerlei fortschrittlichere Technologie existierte, war das eine enorme, unfassbare Aufgabe.
Zugleich stellte eben diese Aufgabe die ›Erzengel‹ vor ein gewisses Dilemma. Die ersten Kolonisten (und deren Nachfahren) bedurften eines Mindestmaßes an technologischen Werkzeugen, wenn sie sich, ausgehend von ihren ursprünglichen Enklaven, über die gesamte Oberfläche des Planeten ausbreiten und dabei überleben sollten. Das Uberleben der Menschheit zu sichern war ja schließlich der eigentliche Grund für die Gründung der Kolonie in den Tiefen des Weltraums gewesen. Selbst Wahnsinnige wie Langhorne und Bédard hatten sich gezwungen gesehen, wenigstens das einzusehen! Stünden diese Werkzeuge nicht von Anfang an zur Verfügung, würde das den Kolonisten abverlangen, einen immensen Erfindungsreichtum an den Tag zu legen. Damit aber entstünde die Grundlage für jene Art Neuerungen, die diese beiden Verrückten unbedingt zu verhindern entschlossen waren. Daher hatten sich die ›Erzengel‹ gezwungen gesehen, den Menschen ›göttliche‹ Anweisungen mit auf den Weg zu geben. Diese Anweisungen behandelten Viehzucht und Düngetechniken, Hygiene, Grundlagen der Präventivmedizin, gewisse Fertigungsmethoden (ausgelegt allerdings nur für äußerst kleine Anlagen oder den Hausgebrauch), und dazu noch Informationen über unzählige weitere unbedingt erforderliche Fertigkeiten und Techniken.
Dass diese Anweisungen stets zum gewünschten Erfolg führten, wenn man sie Wort für Wort beherzigte, stützte und verstärkte selbstverständlich nur noch die auf Wunder ausgelegte, grundlegend unwissenschaftliche Weltsicht, die Safehold so viele Jahrhunderte in ihrem Würgegriff gehalten hatte. Doch Menschen waren nun einmal Menschen. Es gab immer jene, die es doch noch ein wenig genauer wissen, die Dinge noch ein wenig grundlegender verstehen wollten. Trotz der Inquisition, die sich stets bemühte, Wissbegierige mit Adleraugen zu beobachten, wurde die eine oder andere Frage letztendlich doch irgendwann gestellt.
Trotzdem entwickelte sich das wissenschaftliche Denken nur mit der Trägheit eines Gletschers, selbst an der Königlichen Hochschule. Doch unter der Ägide König Haarahlds ging es mit einem Mal rascher voran. Gleichzeitig stieß die neue Weltsicht auch auf deutlich mehr allgemeine Akzeptanz ... zumindest in Charis. Und das, so vermutete Mahklyn, mochte durchaus etwas damit zu tun haben, dass Zhaspahr Clyntahn jenes so weit abgelegene Königreich abgrundtief verabscheute und hasste.
Seit Merlins Ankunft in Charis, und seit der Konflikt zwischen Charis und der ›Vierer-Gruppe‹ offen ausgebrochen war, hatte sich dieser Lernprozess ungleich beschleunigt. Dr. Lywys gehörte zu den glühendsten Verfechtern dieser neuen Vorgehensweise, auch wenn ihr tatsächliches Wissen um die verschieden Aspekte der Chemie bestenfalls auf Empirie basierte. Bei einer ganzen
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