Die Eisfestung
getötet und aufgegessen werden sollten. Hugh glaubte immer noch hartnäckig daran, dass die Burg nicht gestürmt werden würde – er wusste, was mit ihm geschehen würde, wenn er dem König in die Hände fiel. Doch seine Männer waren nicht alle der gleichen Meinung, und einer von ihnen war der Truchsess, Herzog Hughs rechte Hand. Wohin er auch blickte, sah er überall Menschen, die kurz vor dem Verhungern waren. Vor den Mauern aber stand das Heerlager des Königs so fest und unerschütterlich wie die Wälder ringsum. Der Winter war nicht mehr fern, und er hielt es für Wahnsinn, das alles noch länger andauern zu lassen. Deshalb beschloss er, dem König zum Sieg zu verhelfen.«
»Klingt vernünftig«, sagte Emily.
»Überhaupt nicht!«, erwiderte Simon. »Er ist ein Verräter.«
Marcus lachte auf. Er freute sich über die Wirkung, die seine Geschichte hatte. »Er war ein Verräter«, sagte er. »Und hört zu, was er gemacht hat. Er brachte ein paar Wachen am Burgtor auf seine Seite, und mit ihrer Hilfe gelang es ihm, eine Botschaft an den König hinauszuschmuggeln. Darin versprach er, zu einem vereinbarten Zeitpunkt das Tor für die Belagerer zu öffnen, wenn ihm und seinen Freunden das Leben geschenkt würde.«
»Was für ein Scheißtyp!«, sagte Simon.
»Der König stimmte zu und in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages schlich sich der Truchsess zur Wache ans Burgtor. Er und seine Männer töteten die Wachen, die nicht in die Verschwörung eingeweiht waren, dann zogen sie das Fallgitter hoch und öffneten das große Tor. Als sie das getan hatten, zündete der Truchsess in einem Fenster der Wachstube eine Fackel an – das war das Zeichen für König John.
Kaum war die Fackel im Fenster zu sehen, als auch schon die Hörner geblasen wurden und die Belagerer über die Brücke stürmten, durch das Tor hindurch und in den Zwinger hinein. Die Verteidiger schlugen Alarm, aber für die Kämpfer auf der äußeren Ringmauer war es zu spät. Bevor sie wussten, wie ihnen geschah, hagelte es schon Pfeile in ihre Rücken, und die Männer des Königs drangen in die Wirtschaftsgebäude und Ställe ein, steckten sie in Brand und töteten die von Panik ergriffenen Menschen, die herausliefen.«
»Das ist alles hier passiert?«, fragte Emily fassungslos. »Wie schrecklich!«
»Das ist großartig«, sagte Simon. »Und was ist dann geschehen – ist Hugh getötet worden?«
»Es gibt eine weitere Wendung in der Geschichte«, fuhr Marcus fort. »Hugh und seine Familie waren alle hier im Wohnturm, als der Feind die Burg stürmte, und Hugh gab sofort den Befehl, dass die Türen des Gebäudes verbarrikadiert werden sollten. John mochte zwar über die Ringmauern der Burg gelangt sein, aber in den Hauptbau würde er nicht eindringen können. Während die Nebengebäude ringsum alle brannten, stieg Hugh einen der Türme hoch, um zu seinen Bogenschützen zu gelangen, die auf die Männer des Königs ihre Pfeile niederprasseln ließen. Auf dem Weg nach oben hielt er nur einmal kurz an, um nach seinem Sohn Roger zu schicken. Nach einer Weile fiel ihm auf, dass Roger noch nicht gekommen war, deshalb ließ er nochmals nach ihm schicken. Roger kam immer noch nicht. Das passte nicht zu ihm – Roger war sonst stets an der Seite seines Vaters. Deshalb lief Hugh wieder hinunter und beauftragte alle Diener, nach ihm zu suchen – aber keiner konnte Roger finden.
Voller Unruhe und Sorge kehrte Hugh zu den Bogenschützen auf die Zinnen zurück, um weiter Widerstand zu leisten. Er war keine Minute dort oben, als er etwas sah, das ihm das Blut stocken ließ. Kann ich vielleicht einen Schluck Wasser haben? Meine Kehle ist ganz trocken.«
»Nein! Kannst du nicht!«, brüllte Simon. »Gib ihm keins, Em, bevor er nicht die Geschichte zu Ende erzählt hat.«
Marcus grinste. »Okay, dann werd ich jetzt schnell machen. Die Sonne war inzwischen aufgegangen und warf ihre ersten Strahlen auf den verwüsteten Burghof. Hugh blickte von den Zinnen herab. Da entdeckte er, dass eingetreten war, was er am meisten gefürchtet hatte. Im Schmutz dort unten lag sein kleiner Sohn. Er trug noch sein Nachthemd und hielt das Schwert fest umklammert. Aber er war tot. Er lag inmitten einer Blutlache. Seine Brust war durchbohrt.
Nun wusste Hugh, was geschehen war. Als Alarm geschlagen worden war, hatte sein tapferer Sohn nicht lange gezögert, sondern sofort nach seinem Schwert gegriffen und war hinausgerannt, um der Gefahr die Stirn zu bieten. Bevor er zehn
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