Die Eisfestung
Schritte weit gekommen war, hatte einer von Johns Männern ihn niedergestreckt.
Als er den Leichnam seines Sohnes sah, gab Hugh eine neue Order, und seine Männer folgten ihm. Sie verließen ihre Posten hoch oben auf den Zinnen der Burg, stürmten die Wendeltreppen hinab und stürzten sich in die Schlacht, um sich an dem König zu rächen. Es war ein letztes Aufbäumen, erfüllt von ritterlichem Stolz, aber natürlich vollkommen sinnlos. Hugh fiel sofort zu Boden, ein Pfeil hatte ihm den Hals durchbohrt. Seine Männer wurden entweder getötet oder in die Enge getrieben. Nur wenige Minuten später war die Burg endgültig gestürmt. Die große Belagerung war vorüber. Als alles ruhig war, ritt John selbst in den Burghof ein.«
»Er hat an der Schlacht nicht teilgenommen?«, fragte Emily. »Was für ein Feigling!«
»Das war nicht sein Stil. Aber etwas anderes hat er gemacht.«
»Was?«
»Er hat den Truchsess und die übrigen Verräter zu sich rufen lassen. Sie waren die einzigen Männer aus der Burg, die nicht tot oder verletzt waren, und sie waren ziemlich zufrieden mit sich, weil alles nach Plan verlaufen war. ›Nun‹, sagte John, ›ich nehme an, ihr wollt jetzt in meine Dienste treten?‹ Die Männer bejahten dies. ›Nun denn‹, fuhr John fort, ›so wie jeder Ritter in meinem Reich mir als seinem König die Treue schwören muss und seinen König niemals verraten darf, so muss auch jeder einfache Gefolgsmann seinem Herrn die Treue schwören. Euer Herr hat seinen Treueeid gebrochen, und er hat dafür büßen müssen, aber ihr wiederum habt ihn verraten. Und ein Gefolgsmann, der seinen Herrn verrät, stellt nur eines unter Beweis – dass er keines Vertrauens und keines Dienstes würdig ist und sein Leben verwirkt hat.‹ Als sie diese Worte hörten, fielen der Truchsess und seine Helfer auf die Knie und flehten um Gnade, aber ohne Erfolg. Der König ließ sie fortbringen und töten.«
Mit großer Genugtuung beendete Marcus seine Erzählung.
»Das war aber trotzdem ein bisschen hart«, sagte Emily. »Klar waren das üble Burschen, aber schließlich hatten sie John geholfen, die Burg zu erobern.«
»Nein, sie haben es verdient«, sagte Simon.
»Ich weiß nicht...«
»Aber’ne gute Geschichte, was?«, sagte Marcus. »Das war das einzige Mal, dass die Burg erobert wurde. Durch Verrat. Es gab im Lauf der Zeit noch zwei weitere Belagerungen, aber die Feinde mussten jedes Mal unverrichteter Dinge abziehen.«
»Und all das hat sich hier ereignet...« Simon verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Stellt euch vor, ihr blickt vom Turm und seht, dass unten euer Sohn tot daliegt.«
»Welcher Turm war es eigentlich?«, fragte Emily. »War es vielleicht der Turm hier?«
»Glaub nicht, dass man das noch weiß.«
»Schade, dass wir nicht hochkönnen.«
»Aber wartet mal.« Marcus kramte in seinem Rucksack und holte die Broschüre hervor. »Ich glaub... Lasst mich nachsehen...«
Im Schein der Taschenlampe studierte er den Grundriss der Burg.
»Ja, einer der Türme ist ganz zugänglich. Schräg gegenüber von unserem hier. Ich weiß natürlich nicht, ob er jetzt offen ist, aber irgendwann können wir ja mal hin und nachschauen.«
»Warum nicht jetzt?«, fragte Emily, der es in ihrem Schlafsack etwas zu eng und zu warm geworden war. Das Feuer hatte den Raum gut aufgeheizt. »Lasst uns das gleich machen. Wird nicht lang dauern.«
»Habt ihr’ne Ahnung, wie eiskalt es da sein wird?«, sagte Simon. »Kann das nicht warten?«
»Aber morgen früh hab ich keine Zeit mehr«, sagte Marcus. Er zog den Reißverschluss von seinem Schlafsack auf und wühlte sich heraus. »Ist’ne prima Idee – im Dunkeln wird es richtig schön gruselig sein.«
Emily folgte seinem Beispiel. Simon seufzte, aber dann gab er sich geschlagen.
»Gerade als es allmählich gemütlich wurde«, sagte er.
7
S ie zogen ihre Stiefel an und streiften noch ein paar Extraschichten über. Simon legte das letzte Brennholz nach, dann standen alle drei aufbruchsbereit vor der Tür. Jeder hatte seine Taschenlampe in der Hand. Marcus leuchtete damit auf den Grundriss der Burg, den er in der Hand hielt.
»Okay«, sagte er. »Wir verlassen jetzt unseren Stützpunkt. Wir haben die Wahl zwischen zwei Routen. Wenn wir ein Stockwerk tiefer gehen, können wir entweder den Weg am Rittersaal entlang nehmen und dann an der Küche vorbei oder uns für die Kemenate und die Kapelle entscheiden.«
»Wo ist es wärmer?«, fragte Simon.
»Beide eiskalt. Aber die
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