Die Eisfestung
schneebedeckten Felder hinaus.
»Er erinnert mich manchmal an meinen Vater«, sagte er.
»Dein Vater ist ein ziemlicher Choleriker, was?«, fragte Emily.
»Könnte man so sagen. Er geht los wie eine Rakete, wenn ich was allein unternehme. Kann er nicht haben. Er will nicht, dass ich mein eigenes Leben führe. Und jetzt war ich’ne ganze Nacht nicht zu Hause...« Marcus seufzte. »Er wird mich umbringen.«
»Was wirst du ihm erzählen?«
»Keine Ahnung. Hab mich nie besonders gut mit ihm verstanden, Em. Ich hab mich Mum viel näher gefühlt, was er natürlich gehasst hat. Er hat immer gesagt, dass ich ein verzogenes Muttersöhnchen bin. Dad und ich haben nicht viel miteinander geredet, und wenn es mal der Fall war, haben wir gestritten. Mum hat uns beide immer wieder halbwegs beruhigen können, aber seit sie tot ist... Wir hatten keine andere Wahl. Wir mussten allein zurechtkommen. Es ist ein Albtraum, Em. Wenn er nach Hause kommt, ist er total geschafft und geladen; erwartet von mir, dass ich alles für ihn mache. Lässt mich nicht aus dem Haus. ›Ich will dich hier in meiner Nähe haben, mein Sohn, wo ich ein Auge auf dich haben kann.‹ Und er hasst es, wenn ich was lese. Guckt selbst immer nur in die Glotze, nimmt nie ein Buch in die Hand.«
»Meine Eltern auch nicht. Aber ich weiß, was du meinst. Muss ganz schön schwer für dich sein.«
Marcus warf ihr einen misstrauischen Blick zu. »Aber nicht wirklich schwer, willst du das damit sagen? Nicht dramatisch genug für dich? Du verstehst mich nicht, Em. Das treibt mich in den Wahnsinn. Ich kann es nicht mehr länger ertragen! Ich würde alles tun, um ihn loszuwerden.«
»Was wirst du ihm erzählen,wenn du nach Hause kommst?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du könntest ja mir die Schuld geben... erzähl ihm, dass jemand von deinen Freunden, also ich, dich heute früh angerufen hat, wegen irgendeinem Notfall. Hat deine Hilfe gebraucht. Und dann bist du hin.«
»Was für ein Notfall?«
»Ich weiß nicht, vielleicht weil ich plötzlich krank geworden bin. Oder weil ich einen Unfall hatte. Nein, das ist Blödsinn.«
»Ja.«
»Oder du warst wieder in der Bücherei – um dein Referat fertig zu machen. Du hast richtig Stress in der Schule. Viele Prüfungen.«
»Und warum hab ich ihm dann keinen Zettel geschrieben? Außerdem würde er mir das sowieso nicht abkaufen. Danke, Em, aber das hat alles keinen Zweck.«
Unten im Hof knirschten Simons Schritte über den festgefrorenen Schnee und näherten sich der Treppe.
»Hat mir letzte Nacht gut gefallen.«
»Ja.«
»Deine Geschichten haben mir auch gefallen.«
»Simon glaubt nicht, dass sie wahr sind – keine einzige davon. Hat er mir deutlich zu verstehen gegeben. Er hat behauptet, dass ich mir einfach alle möglichen Dinge ausdenke.«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Hat er schon. Und du? Glaubst du auch, dass ich ein Lügner bin?«
»Nein«, sagte Emily. »Sag mal, willst du mir nicht deine Telefonnummer geben? Simon lauf ich in unserm Dorf die ganze Zeit über den Weg, aber bei dir ist das anders. Du wohnst weiter weg. Dann können wir uns mal treffen. Irgendwas zusammen unternehmen.«
Marcus schaute sie an. »Und die Burg? War’s das dann?«
Emily dachte an ihre eiskalten Füße, ihre tropfende Nase, ihr riesengroßes Bedürfnis, nach Hause in ein geheiztes Zimmer zu kommen und sich in die Badewanne zu legen. »Ähm...«
»Okay, das war’s dann wohl mit der Burg. Hast du einen Stift?«
»Ähm... nein.«
»Kein Problem, dann sag mir deine Nummer. Ich werd sie mir merken. Ich hab ein gutes Zahlengedächtnis.«
Emily sagte sie ihm. Marcus wiederholte sie gerade ein zweites Mal, als Simon neben ihnen auftauchte.
»Alles in Ordnung«, sagte er mit mürrischem Gesicht. »Zuerst ihr zwei. Ich mach dann das Seil ab und komm nach.« Nach einem kurzen Blick in die Umgebung, um zu sehen, ob die Luft rein war, ließ er das Seil aus der Öffnung hinabgleiten. Wortlos kletterte Marcus auf die Mauer, griff nach dem Seil und war verschwunden. Simon machte einen Schritt zurück und schulterte seinen Rucksack.
»Die Telefonnummern ausgetauscht?«, fragte er.
»Na und?«, gab Emily schroff zurück. »Wie sollen wir denn sonst in Kontakt bleiben?«
»Bist du dir sicher, dass du das willst? Was der die ganze Zeit für einen Unsinn quasselt.«
»Gestern Nacht hat sich das bei dir aber ganz anders angehört.« Sie äffte seine aufgeregte Stimme nach. »›Wahnsinnig tolle Geschichte, Kumpel! Erzähl mir noch
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