Die Eisfestung
eine, Kumpel!‹«
»Du blöde, hochnäsige Zicke. Jetzt mach. Du bist dran.«
Emily ließ sich vorsichtig an dem Seil die Mauer hinab. Sie kochte vor Wut. Simon war so ein Holzklotz! So ein Trottel! Sie konnte ihm sein ungehobeltes Benehmen nicht verzeihen. Er war nicht besser als sein ekelhafter Bruder. Vielleicht sogar noch schlimmer – denn Carl war so widerlich, dass man sofort wusste, woran man war, und nichts mit ihm zu tun haben wollte.
Sie war unten angekommen. Marcus wartete auf sie, er wirkte schmal und blass. Irgendetwas an seiner Haltung erinnerte sie an ihre erste Begegnung, als sie ihn beobachtet hatte, wie er die Schneebälle den Graben hochwarf. Wenn sie ihn ansah, fühlte sie sich selbst ganz einsam und verloren.
»Geh jetzt besser«, sagte sie. »Warten macht es nur noch schlimmer. Mit dem Vollidioten werd ich auch allein fertig.«
»Irgendwas passiert?«
»Ach, nichts weiter. Mach, dass du nach Hause kommst. Ich hoffe, du kriegst nicht zu viel Ärger.«
Marcus zuckte mit den Schultern. Dann drehte er sich um und trottete davon.
»Hey!«, rief sie ihm nach. »Vergiss die Telefonnummer nicht.«
Er wiederholte sie noch einmal, ganz schnell, sich halb zu ihr umdrehend, dann war er an der Böschung des Burggrabens angelangt und plötzlich nicht mehr zu sehen. Emily blickte wieder die Mauer hoch. Wie aus dem Nirgendwo sauste auf einmal das Seil herunter, in einer wütenden, um sich schlagenden Bewegung, verfehlte sie nur knapp und riss eine scharfe Spur in den Schnee.
Sie schaute es dumpf und müde an, verspürte zugleich Enttäuschung und Erleichterung.
Das war’s, dachte sie. Jetzt kommen wir in die Burg nicht mehr rein. Es ist vorbei.
ANNÄHERUNG
10
E in Tag verstrich, und dann der nächste. Wenn es in Emilys Leben innerhalb dieser zwei Tage irgendwelche wichtigen Ereignisse gegeben hätte, dann wäre die Erinnerung an die Nacht in der Burg vielleicht in den Hintergrund gedrängt worden. Denn besonders große Lust, sich daran zu erinnern, hatte Emily nicht. Der Grund dafür war, dass sie der Burg die Schuld an der schlimmen Erkältung gab, die, kaum war sie zu Hause, bei ihr voll ausgebrochen war. Sie hatte sich gleich ins Bett legen müssen, was wenigstens den Vorteil hatte, dass sie den versäumten Schlaf nachholen konnte. Aber es ging ihr wirklich schlecht, und sie fühlte sich scheußlich. Hinzu kam, dass das Verhalten von Simon und Marcus sie immer noch ärgerte. Irgendetwas in ihr war aus dem Gleichgewicht gebracht. Am liebsten hätte sie nicht nur die Burg, sondern auch ihre beiden Freunde vergessen. Zumindest ein Teil von ihr wollte das. Aber sie lag krank im Bett und hatte nichts zu tun. Ihre Eltern saßen unten im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Sie war allein und hatte genug Zeit, um über alles nachzugrübeln.
An Marcus musste sie dabei viel öfter denken. Auf Simon war sie zwar immer noch wütend, weil er sich so danebenbenommen hatte, aber seit sie richtig ausgeschlafen hatte, war ihr Ärger fast verflogen. Sie verstand auch nicht mehr, warum sie überhaupt so explodiert war. Mit Marcus lagen die Dinge anders, bei ihm war es nicht so einfach. Seine Begeisterung, seine Angst, seine endlosen Erzählungen – wenn sie an ihn dachte, dann mit einer komischen Mischung aus Abwehr und Betroffenheit. Er war so wechselhaft... wie ein Chamäleon... das war das Problem. Kaum hatte man sich auf ihn eingestellt, änderte sich seine Stimmung schon wieder. Sie spürte bei ihm eine Anspannung, die es schwer machte, mit ihm gut auszukommen.
Am zweiten Tag hatte jemand für sie angerufen, aber da schlief sie gerade. Er hatte seinen Namen nicht genannt und auch keine Nachricht für sie hinterlassen. Emily ahnte, um wen es sich wahrscheinlich handelte, und war enttäuscht, als er sich nicht noch einmal meldete. Sie fühlte sich so nervös und unruhig wie noch nie in ihrem Leben.
Doch hinter alldem – und dessen war sie sich kaum bewusst – gab es noch die Erinnerung an die Burg selbst, die Emily nicht abschütteln konnte. Im Traum schritt sie wieder durch die dunklen gewölbten Gänge, starrte auf das flackernde Feuer im Kamin, kletterte die Wendeltreppe zum Turm hoch, um in das Himmelszelt mit seinen leuchtenden Sternen zu schauen.
Am dritten Tag hatte ihre Erkältung so weit nachgelassen, dass sie nach dem Mittagessen das erste Mal wieder aus dem Haus gehen konnte. Sie machte einen Spaziergang durch das Dorf. Dann kam sie zu den ersten offenen Feldern, hinter denen sich das Sumpfland
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