Die Eisfestung
Baumstumpf. Ein nasses Stück Rinde landete im Schnee.
»Klar passt das zu ihm! Er kommt prima ohne uns aus. Keiner sagt ihm dann, was er zu tun hat. Und wenn ihm langweilig wird, kann er sich ja ein paar Geschichten erzählen.«
»So ist er nicht -«
»Ist auch egal. Das Problem ist, sie werden ihn irgendwann schnappen. Früher oder später – und bei Marcus eher früher – wird er Harris direkt in die Arme laufen oder irgendein Kind entdeckt seinen Hintern in einem Abflussrohr oder was weiß ich. Sag jetzt nichts – du weißt, dass ich recht habe. Wenn er so weitermacht und immer wieder herkommt, werden sie ihn irgendwann schnappen, und dann sind wir alle dran. Sie werden ihn auf die Polizeiwache bringen und eine Stunde später klingeln sie bei dir und bei mir an der Tür. Glaub mir, ich weiß, wie das läuft. Und aus einem Typen wie Marcus kriegen sie alles raus, was sie wollen.«
»Das wird nicht passieren«, sagte Emily. Ein eiskalter Schauder lief ihr den Rücken hinunter.
»Nein, das wird es auch nicht«, sagte Simon grimmig. »Deshalb klettre ich jetzt da rein und mach ihm klar, dass er abhauen soll.«
»Bist du verrückt? Du weißt nicht mal, ob er wirklich drin ist. Sie werden dich selber noch schnappen.«
»Mich nicht, heute ganz bestimmt nicht. Ich hab gerade noch mal bei Harris vorbeigeschaut. Er hat Besuch. Es sind drei Autos vor dem Haus geparkt. Für eine Stunde oder zwei ist er außer Gefecht gesetzt – wahrscheinlich für den Rest des Tages, wenn er ein paar Schnäpse trinkt. Mit Marcus hast du natürlich recht, könnte sein, dass er nicht drin ist, aber ich glaub schon. Ohne fremde Hilfe kommt er nicht raus.«
Sie standen nebeneinander, mitten im Wald, und ringsum war das Tropfen und Plätschern des Tauwetters zu hören. Da fiel Emily plötzlich der dicke Rucksack auf, der von Simons Schultern hing. Schlagartig wurde ihr klar, was hier eigentlich ablief. Sie lachte laut auf.
»Er ist nicht der Einzige«, sagte sie. » Wir können es auch nicht lassen. Du hast bestimmt recht mit dem, was du gesagt hast, dass sie Marcus schnappen werden und so, aber das ist nicht der einzige Grund, warum du wieder in die Burg willst. Und es ist bestimmt kein Zufall, dass du mich getroffen hast und dass ich ausgerechnet hier rumstehe.«
»Du musst nicht mitkommen.«
»Aber ich will. Was ist denn sonst noch im Angebot? Nach Hause gehen und fernsehgucken? Nein danke!«
»Wir bleiben nicht lange. Nur so lange, wie wir brauchen, um diesen Idioten rauszuschmeißen.«
»Alles klar.«
Sie marschierten gemeinsam durch den Wald, bis sie an eine Stelle kamen, an der die kahlen schwarzen Äste fast über die Burghecke ragten. Die Hecke war dort dürr und löchrig, teilweise durch Maschendrahtzaun verstärkt. Simon drückte ein leicht durchhängendes Stück nach unten.
»Los. Spring drüber.«
»Hier? Wo mich von drüben jeder sehen kann?«
»Es ist überall ein fürchterlicher Schneematsch. Da geht keiner spazieren. Ich hab keine Lust, noch länger hier rumzuschleichen. Los, mach schon.«
Sie sprangen über den Zaun und waren wieder auf dem Gelände der Burg.
Direkt neben der Hecke lag noch tiefer Schnee, aber er war weich und nass. Weiter vorne schauten schon einzelne Grasbüschel aus der löchrigen Decke hervor. Sie machten sich auf den Weg zur Brücke.
»Jemand hat mich gestern angerufen«, sagte Emily. »Ich hab aber geschlafen. Er hat nichts ausrichten lassen und auch nicht gesagt, wer er ist. Vielleicht war es Marcus.«
»Er hat’s nur einmal versucht? Nicht gerade oft.«
Die Mauer ohne Seil hochzuklettern, war für Simon diesmal viel einfacher, weil das tückische Eis, das die Steine überzogen hatte, weggeschmolzen war. In den Vertiefungen und Ritzen konnte er gut Halt finden. Emily wartete ungeduldig darauf, dass sie an der Reihe war. Sie ließ ihren Blick über das Gelände schweifen, um zu sehen, ob von irgendwoher Gefahr drohte. Doch Simon hatte recht. An so einem Tag war niemand draußen unterwegs. Sie untersuchte auch den Schnee entlang der Mauer, vielleicht entdeckte sie frische Fußspuren, aber ohne Erfolg. Der Schnee war dort ganz zertrampelt.
Nach kurzer Zeit wurde das Seil heruntergelassen und Emily kletterte hoch, noch etwas schwach und wackelig von ihrer Erkältung. Ihre Muskeln schmerzten. Der Wind, der stärker geworden war, wehte ihr die Haare vors Gesicht. Dann standen sie nebeneinander auf dem Mauerumgang, wie vor ein paar Tagen. Emily schaute in die gähnende Tiefe des
Weitere Kostenlose Bücher