Die Eisfestung
Rittersaals hinab. Der Wind pfiff durch das Gemäuer und verfing sich in den Resten der Gewölbebögen. Die Burgkrähen hockten mürrisch in ihren unförmigen Nestern.
»Nichts zu sehen«, sagte sie. »Niemand da.«
»Bei dem Wetter wird er sich drinnen verkrochen haben. Ich denk mal, er ist in unserem Zimmer.«
Es war eine Wohltat, in den windgeschützten Teil des Umgangs zu gelangen, wo die orkanartigen Böen nicht mehr hinkamen. Sie stiegen die Wendeltreppe hinauf. Simon gab Emily ein Zeichen, ganz still zu sein. Oben angekommen schob er die Tür vorsichtig einen Spalt auf und spähte in das Zimmer hinein. Er runzelte ungläubig die Stirn. Dann marschierte er geradewegs hinein.
»Da ist er nicht«, sagte er, was ziemlich überflüssig war.
Emily blickte umher. »Auch nicht im Kamin?«
»Marcus? Dann wäre hier alles voller Ruß.«
»Stimmt. Aber es muss hier drinnen jemand gekehrt haben. Ich finde, es ist jetzt viel sauberer. Nicht so wie an dem Morgen.«
»Findest du? Jedenfalls ist er nicht hier. Lass uns weitersuchen.«
Sie stiegen wieder hinunter. Auf dem nächsten Treppenabsatz, von dem rechts der Durchgang zur Kemenate abzweigte, hielten sie an. »Hier entlang?«, fragte Simon.
»Ja. Lass es uns systematisch machen.«
Sie tauchten in die Tiefen der Burgruine ab, schnell durch die Räume schreitend, Augen und Ohren offen haltend. Aber sie konnten nichts entdecken, und das einzige Geräusch, das sie hörten, war der Wind, der durch die Gänge blies. In der Kemenate, der Kapelle, dem Abort und dem Säulenzimmer war von Marcus keine Spur – und auch nichts, was darauf hingedeutet hätte, dass er sich dort aufgehalten hatte. Die Vorhalle zum Rittersaal war ebenfalls leer.
»Von hier gehen zu viele Wege ab«, sagte Simon. »Wir müssen uns aufteilen. Ich steig den Turm hoch, du guckst nach, was sich hinter diesen beiden Türen verbirgt. Eine davon muss zum Eingang runterführen, wenn es stimmt, was Marcus gesagt hat.«
Er stapfte die Wendeltreppe hoch. Emily ging durch die erste Tür und befand sich in der Küche, von der einstmals die Ritterräume der Burg versorgt worden waren. Es war eine Sackgasse. In eine Wand waren drei große Backöfen eingemauert. Normalerweise hätte Emily sich dafür interessiert, aber jetzt hatte sie keine Zeit. Sie kehrte um und näherte sich dem zweiten Ausgang, diesmal kein offener Durchgang, sondern eine richtige Tür.
Sie drückte die große schwarze Klinke herunter und stieß die Tür vorsichtig auf. Eine düstere Treppe führte gerade und steil nach unten. Emily stieg hinunter und kam an eine andere Tür, die schon uralt war, aus dunklem Holz, von Würmern durchlöchert. Sie berührte sie und die Tür ging von selbst auf. Dahinter führten weitere Stufen in die Tiefe, die von den Leuten, die dort viele Jahrhunderte lang auf und ab getrappelt sein mussten, ganz ausgetreten waren. In dem trüben Licht konnte Emily die weichen, tiefen Mulden in den Steinen erkennen. Die Treppe endete in einem kurzen Durchgang, dessen Steinplatten ebenfalls schon jahrhundertealt sein mussten. Dann stand Emily vor zwei mächtigen Türflügeln, deren Holzbohlen dicht mit schwarzen Nägeln beschlagen waren. Das konnte nur die Rückseite des Eingangstors sein.
Sie hatte sich gerade wieder auf den Rückweg gemacht, als sie stehen blieb. Sie hatte das undeutliche Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Emily schaute die Treppe hoch – vielleicht war Simon vom Turm zurück. Aber in der Türöffnung am Ende der Stufen war keiner zu sehen. Alles war leer... Doch das unangenehme Gefühl blieb. Hastig ging sie weiter -
Plötzlich hörte sie ein Kratzen und Scharren.
Direkt über ihrem Kopf. Das Blut erstarrte ihr in den Adern. Kam das von der Decke?
Sie blickte nach oben.
Nichts zu sehen – nur die beiden runden Löcher, die dort in die Mauer eingelassen waren, tief und schwarz. Die Gusslöcher. Eines befand sich direkt über ihr, nur wenig größer als ihr Kopf. Sie schaute geradewegs hinein, aber sie konnte nichts erkennen. Doch, da war ein Schatten.
Marcus.
So schnell sie konnte, rannte Emily die Treppe hoch. Erst die Stufen, bis zur alten Holztür, dann weiter. Oben angekommen stieß sie fast mit Simon zusammen.
»Alles in Ordnung?«
»Er ist im Säulenzimmer! Bei den Gusslöchern! Komm mit!«
Sie raste um die Ecke den schmalen Gang entlang, fast wäre sie ausgerutscht, dann war sie in dem Saal mit dem halb eingefallenen Gewölbe. Simon folgte ihr dicht auf den Fersen.
Der Raum war
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