Die Eisfestung
leer.
Simon schnappte nach Luft. »Was willst du hier, Em? Wie kommst du darauf, dass -«
»Er war hier, er hat mich durch die Löcher da beobachtet. Ich hab ihn gehört. Ganz sicher, Simon! Hey, guck mal! Die Deckel sind weg, das kann nur er gewesen sein!«
Die beiden Plexiglasscheiben waren nicht mehr über den runden Öffnungen im Boden befestigt, sondern lagen daneben.
»Wie hat er das bloß geschafft?«, fragte Simon immer noch ganz außer Atem. »Er muss Werkzeug dabeihaben.«
Noch während er das sagte, stürmte Emily bereits durch den anderen Eingang hinaus.
»Er kann nur da entlang sein! Komm mit, jetzt schnappen wir ihn!«
Sie rannten durch die Kapelle und die Kemenate, dann waren sie wieder bei der Wendeltreppe angelangt.
»Was meinst du – rauf oder runter? Oder rechts entlang?«
»Rauf nicht – wär’ne Sackgasse für ihn. Du gehst runter, ich rechts.«
Emily stürzte die Treppe runter, im Kreis und noch mal im Kreis und noch mal, bis ihr ganz schwindelig war. Es wurde immer finsterer. Sie landete schließlich in einem hohen düsteren Raum, in dem wahrscheinlich früher Vorräte gelagert gewesen waren. Durch die Türöffnung in der Wand gegenüber fiel spärliches Licht. Sie wollte schon dorthin rennen, hielt dann plötzlich und spähte aufmerksam ringsum. Sie kniff die Augen zusammen, damit ihr auch nichts in dem dunklen Raum entging. Das würde Marcus ähnlichsehen, sich hier zu verstecken und darauf zu warten, dass sie an ihm vorbeistürmte.
Nein – der Raum war leer.
Hinaus in das Licht des Winternachmittags. Sie stand jetzt im Innenhof der Ruine, wo früher der große Rittersaal gewesen war. Ein paar Meter entfernt befand sich die Hütte mit dem Souvenirshop, die Tür war weit geöffnet.
Ein Ruf ertönte. Er kam von oben, von Simon, der schräg über ihr auf dem Mauerumgang stand. Er winkte. »Er muss irgendwo hier sein! Ich hab seine Sachen gefunden.«
»Wo?«
»Die Treppe hoch, in dem Eckturm, wo es nicht mehr weitergeht. Er hat Sachen da gebunkert, du glaubst es nicht! Jede Menge Essen, einen Campingkocher und was weiß ich noch alles.«
»Und Marcus?«
»Er muss irgendwo da unten sein. Ich hätt ihn gesehen, wenn er hier oben gewesen wäre.«
Sein Kopf verschwand aus dem Fensterbogen. Emily stapfte unschlüssig durch den weichen, nassen Schnee im Innenhof. Es gab mehrere dunkel gähnende Öffnungen, in die Marcus hatte fliehen können, aber welchen Durchgang hatte er gewählt? Einer davon führte in den Raum mit dem Brunnen. Emily beschloss, dort zuerst nachzusehen.
Ihre Augen brauchten eine ganze Weile, bis sie sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Die Luft war feucht. An mehreren Stellen der Decke tropfte Wasser herab, kleine Rinnsale und Pfützen bildend, die sich in den Vertiefungen der Bodenplatten sammelten.
Emily machte ein paar Schritte nach vorne, um mehr zu sehen. Zuerst konnten ihre Augen in der Dunkelheit nichts erkennen; aber dann machte sie einen besonders dunklen Fleck in der Finsternis aus, der irgendwie näher zu sein schien als alles andere. Er war klobig und blauschwarz, während der Rest des Raums grauschwarz war.
Emily bewegte sich langsam darauf zu.
Plötzlich ertönte von dem unförmigen dunklen Fleck ein grelles Geräusch, wie Metall, das über Metall kratzt. Emilys Herz machte einen Sprung. Sie wollte schon wieder rückwärts aus dem düsteren Raum hinaus, da hörte sie sich mit stockender Stimme fragen:
»Marcus?«
Von dem blauschwarzen Fleck kam keine Antwort. Aber er veränderte seine Gestalt etwas. Wieder ein schriller Laut. Emily bekam davon eine Gänsehaut.
»Marcus? Bist du das?«
Der klobige Schatten klappte auseinander, wurde lang und schmal. Eine vertraute Stimme sagte genervt:
» Natürlich bin ich das. Wer denn sonst?«
»Und was, zum Teufel, treibst du hier?«
»Ich versuch, das Gitter abzuheben. Ich will rauskriegen, ob das ein Verlies war.«
»Das mein ich nicht. Was treibst du hier in der Burg? Sie werden dich schnappen.«
»Kann euch auch passieren.«
»Stimmt. Aber wir sind nur wegen dir hier, damit du keinen Mist baust. Dann verschwinden wir.«
Diesmal antwortete er nicht. Emily spürte, wie er sie anstarrte.
Als er schließlich etwas sagte, klang seine Stimme merkwürdig fremd und hart. »Wie seid ihr darauf gekommen, dass ich hier bin? Seid ihr allein?«
»Wir – nein, Simon hat gestern Abend ein Licht in der Burg gesehen. Das konntest nur du sein. Niemand sonst weiß davon.«
»Ganz sicher?«
»Ganz
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