Die Eisfestung
sicher.«
Draußen im Innenhof bewegte sich etwas. Emily wandte sich zur Tür und sagte über die Schulter zu Marcus: »Willst du nicht mit rauskommen? Ich rede nicht gern mit dir, wenn ich dir dabei nicht ins Gesicht sehen kann.« Sie trat hinaus ins Licht. Neben der Tür wartete Simon.
»Er ist da drin, oder?«
»Ja. Er kommt gleich.«
»Gut. Ich hab nämlich ein Wörtchen mit ihm zu reden.« Simon senkte die Stimme und rückte nah an Emily heran. »Wenn sie das mit den Gusslöchern sehen, werden sie sagen, dass das Vandalismus ist«, flüsterte er. »Und die ersten beiden, bei denen die Polizei nachforschen wird, werden du und ich sein. Harris wird ihnen sofort erzählen, dass er uns vor der Burg erwischt hat.« Dann sagte er bitter: »Bei mir werden sie natürlich zuerst vor der Tür stehen, aber wer du bist, finden sie auch schnell raus, das kannst du mir glauben.«
Emily spürte, wie ihre Beine wacklig wurden. »Vielleicht können wir die Deckel einfach wieder anbringen?«
»Wie denn? Das Plexiglas ist total kaputt. Das Einzige, was wir machen können, ist, schleunigst von hier zu verschwinden«, sagte Simon. Und dann lauter: »Da ist er ja. Unser stolzer Burgherr.«
Aus dem Schatten der Türöffnung tauchte langsam eine vertraute Gestalt auf. »Spiel dich mal nicht so auf«, sagte sie. Die Gestalt trat ins Licht.
»Oh, Marcus «, sagte Emily.
»Verdammte Scheiße«, sagte Simon. »Was ist denn mit dir passiert?«
11
M arcus hatte seine Mütze bis über die Augenbrauen heruntergezogen. Ein dicker Wollschal, den Emily vorher noch nicht bei ihm gesehen hatte, war um Hals und Kinn gewickelt. Doch die riesengroßen blauen Flecken, die sein Gesicht entstellten, wurden dadurch nicht verdeckt, sondern wie durch einen Rahmen noch betont. Der schlimmste Bluterguss erstreckte sich über die linke Wange, aber auch auf der Stirn schienen sich die blauen Flecken fortzusetzen. Das linke Auge war schwarz, stark geschwollen und halb geschlossen. Das andere Auge war gerötet. Marcus sah sehr müde aus.
Die schlimme Veränderung in seinem Gesicht stand in merkwürdigem Gegensatz zu den nagelneuen Sachen, die er trug. Nicht nur der signalrote Schal, auch alle anderen Kleidungsstücke wirkten wie aus dem Katalog eines Outdoorausrüsters. Er hatte einen Trekkinganorak aus glänzendem Material an, in Knallblau mit orangefarbenem Zickzackmuster. Darunter guckte ein dicker neuer Schafwollpulli hervor. Seine Thermohose war aus dem gleichen Material wie der Anorak. An den Füßen trug er zwei knallfarbene neue Winterwanderstiefel.
»Super, was?«, sagte Marcus. Er grinste unsicher.
Emily und Simon grinsten nicht zurück. »Marcus – wie siehst du denn aus?«
»Was meint ihr? Das Outfit oder mein Gesicht?«
»Das Gesicht natürlich. Und auch die Kleidung... Erzähl uns einfach, was los ist.«
»Dein Gesicht...«, sagte Emily. »Bist du ausgerutscht und hingefallen?«
»Nein, Em. So einfach ist das leider nicht.« Sein gesundes Auge richtete sich unter dem Mützenrand hervor auf Emily. »Ich hab dir doch erzählt, dass mein Dad nicht besonders erfreut reagieren würde – und er war wirklich nicht besonders erfreut.«
»Du meinst -«
»Die Lüge, hat er gesagt, das war es, was ihn so aufgebracht hat. Meine Lügerei. Das sei schlimmer, viel schlimmer als mein Herumtreiben, egal wo ich gewesen war. Die Wahrheit hat ihn nie wirklich interessiert, aber er hat immer verdammt genau gemerkt, wann er sie nicht zu hören bekam. Muss ziemlich komisch gewesen sein, als ich da endlich eintrudelte und mit meiner Geschichte von der Bücherei ankam – du weißt schon, Em, was du vorgeschlagen hast, die Sache mit dem Referat für die Schule. Ich geb dir nicht die Schuld, mir ist einfach nichts Besseres eingefallen. Ich hab mich das sagen hören und ich hab auf Dads Hände geschaut, und ich hab mir dabei gedacht, dass ich noch nie in meinem ganzen Leben etwas gehört habe, was bescheuerter geklungen hätte. Ich hätte mir gleich selber eine verpassen können, so lahmarschig war das. Muss unheimlich komisch gewesen sein, wie ich da im Hausflur stand und irgendwas von Büchern und Öffnungszeiten gestammelt habe, und Dad hat die ganze Zeit meinen offenen Rucksack angestarrt – ich muss wohl vergessen haben, ihn ordentlich zuzumachen, als wir hier weg sind – und da waren keine Bücher zu sehen, sondern nur das Ende meines Schlafsacks, das dort unschuldig herausragte. Genauso gut hätte über meinem Kopf eine Leuchtschrift aufblinken
Weitere Kostenlose Bücher