Die Eisfestung
brachte nichts. Also bin ich hinein, hab darauf geachtet, dass die Tür wieder genauso angelehnt war wie vorher, und bin die Treppe hochgeschlichen. Das waren die schlimmsten Augenblicke. Ich hörte keinen Laut, Harris musste nach meiner Berechnung im ersten Stockwerk sein, noch nicht weiter. Aber ich musste es riskieren. Also bin ich weiter, kam zur oberen Tür, spähte vorsichtig in den Raum, alles war ruhig, da bin ich hinein. Ich hab nicht lang überlegt, sondern bin die nächste Wendeltreppe hochgesaust, bis ich ganz oben war. Aber ihr könnt euch vorstellen, was für ein Gefühl das war. Jeden Moment dachte ich, jetzt -«
Aber Simon hatte lange genug zugehört. »Schon gut, den Rest wissen wir«, sagte er. »Harris ist nicht hochgekommen. Die Gefahr war vorbei. Du warst in der Burg drin, mit allen deinen Sachen.«
»Ja, so ungefähr«, gab Marcus zu.
Danach sagte er nichts mehr. Simon nickte und nahm sich noch einen Keks aus der Packung. Emily saß zusammengesunken auf dem Stuhl und sah Marcus hilflos an. Sie wusste, dass sie eingreifen musste. Sie machte sich große Sorgen um ihn. Gleichzeitig spürte sie ein immer stärkeres Schuldgefühl, je länger sie Marcus zuhörte, und das bedrückte sie noch mehr. Ihr war hundeelend zumute.
Aber sie hielt sich tapfer.
»Marcus«, sagte sie, »ich find’s ganz toll, wie du es hier reingeschafft hast, und das mit der Ausrüstung hast du super gemacht. Ich glaub dir auch, dass du Harris so lang aus dem Weg gehen kannst, wie du willst. Aber früher oder später wirst du die Burg verlassen müssen, weil das keine Lösung für deine Probleme ist.«
Sie beobachtete ihn genau, als sie das sagte. Seine Lippen verzogen sich etwas.
»Was dein Vater getan hat, war echt übel«, fügte sie hastig hinzu, »und du hast natürlich recht gehabt, dass du davongelaufen bist. Aber ich glaub nicht, dass es richtig ist, wenn du dich hier einbunkerst, als ob du auf der Flucht wärst.«
»Ich bin nicht auf der Flucht«, antwortete Marcus. »Ich ziehe mich in eine Stellung zurück, die ich verteidigen kann. Eine andere Möglichkeit hab ich nicht.«
»Doch, hast du«, sagte Emily. »Geh zur Polizei. Eltern dürfen ihre Kinder nicht schlagen. Das ist gesetzlich verboten.«
»Ich geh nicht zur Polizei, Em. Das kümmert die doch einen Dreck.«
»Natürlich kümmern die sich um so was. Sie werden dir helfen, das mit deinem Vater zu regeln. Simon, was meinst du?« (Los, dachte sie, unterstütze mich ein bisschen!)
»Hmmmm.« Er war mit seinen Fingernägeln beschäftigt.
»Sie könnten deinen Vater drankriegen, Marcus.«
Er lachte bitter auf. »Und du denkst, die würden mir glauben? Du bist übergeschnappt!«
»Schau dir mal dein Gesicht an! Natürlich würden sie dir glauben.«
»Und was dann? Mal angenommen sie sperren meinen Vater deswegen ein. Super! Meinst du, dann dürfte ich machen, was ich will? ›Das Haus gehört jetzt Ihnen, Sir.‹ Nee, das würde anders laufen.«
»Das ist doch sicher kein Einzelfall! Bestimmt gibt es da Wege -«
»Klar doch. Was meinst du, wo ich landen würde?«
»Und jetzt? Was für eine Lösung soll das hier sein? Frierst dir hier in der Burg den Arsch ab!«
Simon blickte plötzlich hoch. »Du solltest nicht auf die Polizei zählen, Em«, sagte er. »Wenn es drauf ankommt, würde Marcus’ Aussage gegen die seines Vaters stehen. Die würden sich seinen Vater ansehen, er ist ein ordentlicher Bürger, er hat eine Arbeit und so und dann würden sie Marcus anschauen … Und, ähm...«
»Was?«, erwiderte Emily. »Warum sollten sie Marcus nicht glauben?«
Simons Lippen wurden ganz schmal. »›Hübsche Sachen, die du da anhast, mein Sohn. Ganz neu, was? Hast du dir bestimmt alles von deinem eigenen Geld gekauft, was? Klar doch. Klar doch. Muss ein ziemlich guter Aushilfsjob sein. Wie viel hast du denn da verdient?‹ Du kennst sie nicht, Em. Sie würden Marcus anschauen und einen Dieb vor sich sehen.«
Marcus hatte mit bleichem Gesicht zugehört. »Ich geh nicht zur Polizei«, sagte er.
»Die Polizei ist keine Lösung«, sagte Simon. »Aber was die richtige Lösung ist, weiß ich auch nicht.«
Emily schüttelte verärgert den Kopf. »Ganz genau«, sagte sie, »du hast keinen blassen Schimmer. Das ist alles Unsinn, was er sagt. Hör nicht auf ihn, Marcus.«
»Ich kenn mich da viel besser aus als du«, entgegnete Simon. »Aber in einer Sache stimme ich Em absolut zu – du kannst nicht hierbleiben, Marcus. Oder willst du eine Lungenentzündung
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