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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.D. Miller
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unterzeichnete er ohne einen weiteren Blick das Mandatsschreiben, rülpste und grinste. Wir begleiteten ihn und seinen Aufpasser zum Fahrstuhl. Als er sich verabschiedete, gab er uns die Hand und sagte mit überraschendem Ernst: »Jungs, dies ist was ganz Besonderes. Russland ist euch dankbar.«
    »Lippenstift im Schweinegesicht«, sagte Paolo, kaum hatten sich die Türen geschlossen. So haben wir sie genannt, diese ungezähmten Geschäftsleute wie den Kosaken – unter uns gesagt haben Geschäfte dieser Art damals unseren halben Umsatz ausgemacht, und selbst frisierte Abkommen, Verpflichtungen, Sicherheiten und Offenlegungen konnten das Anrüchige daran nicht ganz überdecken. Manchmal fühlte es sich irgendwie schmuddelig an, fast, als würden wir legale Geldwäsche betreiben. Aber dann redete ich mir ein, all das geschähe auch ohne uns, wir seien schließlich nur Verbindungsleute und finanzierten ja nicht, was immer die Russen mit ihren Krediten anfingen. Unser Job war es bloß, dafür zu sorgen, dass unsere Klienten ihr Geld irgendwann auch wieder zurückbekamen. Die typische Ausrede eines Anwalts.
    »Lippenstift im Schweinegesicht«, stimmte ich zu.
    »Extrem«, sagte Sergei Borisowitsch.
    Der Rest des Nachmittags verging in einem Zustand wirrer Benommenheit wie er einen überkommt, wenn man ein Vorstellungsgespräch oder einen gefürchteten Arzttermin hat; da nickt man und antwortet automatisch, wenn jemand was sagt, hört aber gar nicht zu. In solchen Zeiten scheinen die Zeiger der Uhr eine Ewigkeit für jede Minute zu brauchen, und immer liegt noch so viel Zeit vor einem, ist erst so wenig Zeit seit dem letzten Blick vergangen. Dann aber, am Ende, wenn man plötzlich nervös wird und kneifen will, rast die Zeit, und schon ist der Augenblick da. Gegen sechs Uhr abends ging ich nach Hause, um endlich aus meinem Anzug rauszukommen und das Bad zu putzen – nur für alle Fälle.

DREI
    E he ich anfing, ihm aus dem Weg zu gehen, habe ich meinen Nachbarn Oleg Nikolaewitsch fast jeden Tag gesehen. Meist traf ich ihn auf der Treppe, sah ihn auf dem Absatz vor seiner Wohnung stehen und so tun, als hätte er nicht auf mich gewartet. Damals, als ich einzog und kaum jemanden in Moskau kannte, habe ich gern mit ihm geredet. Er hatte Nachsicht mit meinem Pidgin-Russisch und gab mir den wohlgemeinten Rat, gewisse Stadtviertel zu meiden. Und später dann, als ich mich eingelebt hatte, kostete es mich nicht viel, ein paar Minuten mit ihm zu schwatzen. Ich fand, das war ich ihm schuldig, und manchmal war der Tratsch sogar interessant.
    Bis auf seine Katze wohnte Oleg Nikolaewitsch allein. Er trug einen weißen Spitzbart, und ihm wuchsen Haare aus den Ohren. Einmal erzählte er, er sei Herausgeber einer Literaturzeitschrift, nur wusste ich nicht, ob es die noch gab. Er gehörte zu jenen vorsichtigen russischen Krabben, die hingeduckt am Meeresboden kauern, wissen, wann sie sich verstecken, wann sie stillhalten müssen, die jedem Ärger aus dem Weg gehen und versuchen, keinen zu verursachen. Er war alt und einsam und trieb sich auf dem Treppenabsatz herum, einen seidenen Künstlerschal um den Hals, als ich zum Abendessen in den Traum des Ostens aufbrach.
    »Guten Abend, Nikolai Iwanowitsch«, sagte er auf Russisch. »Und? Wie lebt es sich so als Anwalt?«
    So wurde ich jedes Mal von Oleg Nikolaewitsch begrüßt. Nachdem er herausgefunden hatte, dass mein Vater Ian hieß, fing er an, mich Nikolai Iwanowitsch zu nennen, ein Name, unter dem man mich kennen würde, wenn ich Russe wäre. In diesem Land nannte man die Leute nicht nur beim eigenen Namen, sondern auch bei dem des Vaters, bis man sie besser kannte, alte Leute und Vorgesetzte aber immer. Niemand sonst nannte mich so, und mir gefiel der Name, die Anerkennung, die darin mitschwang, aber auch die altmodische Höflichkeit. Ich antwortete
so lala
und fragte, wie es ihm gehe.
    »Normalno.«
    Ich bat ihn, mich zu entschuldigen, ich habe es eilig. Der Grund für meine Eile dürfte offensichtlich gewesen sein. Ich war mit dem Aftershave nicht sparsam umgegangen – mit dem, das ich heute noch manchmal benutze und von dem du behauptest, es stinke wie Pferdepisse –, außerdem hatte ich mein knalliges, türkisfarbenes Hemd an, das ich sonst nur zu Hochzeiten trug, und hatte auch den unratsamen Versuch unternommen, mein Haar anzuklatschen.
    »Nikolai Iwanowitsch!«, sagte er und hob mahnend einen haarigen Finger. Ich spürte, dass jetzt eines seiner geliebten russischen

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