Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
paar Drinks zum Fest zu Ehren des Geburtstags der Queen gegangen war.
»Ja?«
»Entschuldigen Sie …«
Als wir dastanden, konnte ich seiner Stirn ansehen, wie Langeweile und leichte Besorgnis miteinander rangen, während wir beide darauf warteten, dass ich meinen Satz zu Ende brachte. Dann wusste ich es. Er war der Russe im Wildledermantel, der vor einigen Monaten aus dem Haus von Tatjana Wladimirowna gekommen war, als ich gerade ankam. Die Frisur war immer noch perfekt. Ich starrte über seine seidenverhüllten Schultern und sah, dass der sibirische Kronleuchter fehlte; die Wände im Flur waren dunkelgrün gestrichen. Das unvermeidliche Parkett gab es noch. Ich hörte Musik aus einem Radio, einen tröpfelnden Wasserhahn und dachte:
Sie haben die Wohnung verkauft, noch ehe sie es geschafft hatten, sie Tatjana Wladimirowna abzuluchsen
.
»Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie wissen, wo die alte Dame ist, die hier früher gewohnt hat? Wo ist Tatjana Wladimirowna?«
»Nein«, sagte er, »das weiß ich nicht. Tut mir leid.«
Lächelnd schloss er langsam die Tür.
Ich ging nach draußen und blieb am Teich stehen. Ich wollte noch einmal Maschas Nummer probieren, ein letztes Mal. Diesmal klingelte es und klingelte, doch kam keine Bandansage, laut der das Telefon abgestellt sei. Es klingelte und klingelte und klingelte, und dann nahm jemand ab.
»Allo?« – in dem für Russen so typischen, überaus ungeduldigen, Zeit-ist-Geld-Ton.
Das war nicht Maschas Stimme, und ich brauchte einige Sekunden, um sie zuordnen zu können. Es war Katja.
»Allo?«
»Katja?«
Sie blieb stumm. Irgendwo am anderen Ufer des Teichs wurde eine Flasche zerschlagen, drüben, bei einem der sich sonnenden Fantasietiere. Bestimmt war noch ein Guthaben auf der SIM -Karte gewesen, das sie nicht vergeuden wollten. Ich nahm an, dass sie sich gesagt hatten, ich oder wen auch immer sie sonst noch hatten abschütteln wollen, hätte längst aufgegeben, diese Nummer zu wählen, weshalb sie das Handy beruhigt wieder einschalten konnten.
»Katja, ich bin es. Kolja.«
Sie schwieg. Dann: »
Da
, Kolja.«
»Wie geht es dir?«
»Normal.«
»Kann ich mit Mascha sprechen?«
»Nein, Kolja. Das ist unmöglich. Mascha ist fort.«
»Zu Serjoscha?«, fragte ich mit einer Stimme, die nicht mir zu gehören schien. »Ist sie zu Serjoscha gefahren.«
»
Da
, Kolja. Zu Serjoscha.«
Ich hatte mir nicht genau überlegt, was ich sagen wollte, was ich erfahren wollte, und hörte sie schon fast wieder auflegen.
Also kehrte ich an den Anfang zurück. »Warum ich, Katja? Warum habt ihr mich ausgesucht?«
Sie schwieg; vermutlich überlegte sie, was es sie kostete, mir die Wahrheit zu sagen. Offenbar kam sie zu dem Schluss, dass ich nichts gegen sie unternehmen konnte.
»Du hast uns zu lange angesehen, Kolja. In der Metro. Wir haben gemerkt, du bist leichte Beute. Wir hatten andere Möglichkeiten. Aber dann haben wir gehört, du bist Anwalt. Das war für uns sehr interessant, sehr nützlich. Und Ausländer ist immer gut. Wir hätten auch anderen Mann nehmen können. Wir brauchten nur einen, dem Tatjana Wladimirowna vertrauen würde.«
»Das war alles? Für Mascha, meine ich. Das war alles? Ich war nur nützlich?«
»Vielleicht nicht alles, Kolja. Vielleicht nicht. Ich weiß nicht. Bitte, Kolja.« Sie hörte sich unverändert an, immer noch halb Kind, aber sehr müde. »Es war Business«, sagte sie. »Nur Business.«
»Warum auch mein Geld?«, fragte ich. »Warum habt ihr mein Geld genommen?«
»Warum nicht?«
Ich weiß noch, dass ich nicht so wütend war, wie ich es sein wollte.
»Als ich dich in diesem usbekischen Restaurant gesehen habe – im Winter, du weißt schon –, warum wolltest du damals nicht, dass ich Mascha davon erzähle?«
»Ich hatte Angst, sie wird wütend. Sie denkt vielleicht, du durchschaust, dass alles nicht stimmt. Ist für mich nicht gut, wenn sie wütend wird.«
»Seid ihr wirklich Kusinen, Katja? Sag’s mir. Kommt ihr wirklich aus Murmansk? Und wer ist Stepan Mikhailowitsch?«
»Das ist nicht wichtig.«
Mir blieb nur noch eine Frage.
»Wo ist sie?«, wollte ich wissen. »Wo ist Tatjana Wladimirowna?«
Sie legte auf.
*
An dem Nachmittag vor meiner Abreise aus Russland, am letzten Tag von viereinhalb Jahren, die mir wie ein ganzes Leben vorkommen, ging ich zum Roten Platz. Ich lief um den Bulwar, vorbei am Sommercafé und den Bierzelten zum Puschkin-Platz. Dann schlenderte ich die Twerskaja entlang und an deren Ende durch den
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