Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
Tunnel unter der wahnwitzigen, sechsspurigen Schnellstraße. Ein kleines Häuflein unermüdlicher Kommunisten mit zerschlissenen Hammer-und-Sichel-Fahnen und wilden Augenbrauen veranstaltete eine Demonstration; sie zogen einzeln vom Ferrari-Vorführraum und der Marxstatue herüber. Etwa dreihundert Bereitschaftspolizisten erwarteten sie, die meisten hockten in diesen merkwürdigen, altersschwachen Bussen, in denen sie immer anrollten, einige Beamte standen draußen, rauchten und klopften mit Gummiknüppeln an ihre Schilde. Der Lenin-Impressionist ließ sich mit einer Schar chinesischer Geschäftsleute fotografieren.
Ich ging durch das Tor. Vor mir ragten über dem Kopfsteinpflaster die phantasievollen Kuppeln der Basilius-Kathedrale auf. Glutrot glühten die gigantischen Sterne der Kremltürme hoch über dem aztekischen Mausoleum. Es war mitten im Sommer, doch selbst jetzt konnte man spüren, dass der Winter irgendwo jenseits der Moskwa überdauerte und sich auf seine Rückkehr vorbereitete. Man spürte, wie sich die Kälte in der Wärme regte. Ich stand mitten auf dem Platz, schmeckte die Luft und sog die Stadt in mich auf, bis ein Polizist kam und mich weiterdrängte.
Du wolltest wissen, warum ich dir nichts von Russland erzählt habe. Zum einen, weil es mir so lang her und weit fort vorkommt, mein altes Leben ohne Sicherheitsgurt, zu schwierig, es jemandem zu erklären, zu privat. Ich schätze, das gilt für unser aller Leben. Nur man selbst kann das eigene Leben leben, ob in Chiswick oder in Gomorrha, und es ist nur in Maßen sinnvoll, es in Worten wiederzuerwecken. Und angesichts dessen, wie meine Zeit in Moskau zu Ende ging, schien es mir zum anderen am besten, Gras drüber wachsen zu lassen. Ich habe nicht geglaubt, ich könnte dir die ganze Geschichte erzählen, bis jetzt jedenfalls nicht, also hielt ich den Mund.
Nur – das allein war es nicht. Da ich ehrlich bin, es zumindest sein will und dir sowieso schon fast alles erzählt habe, sollte ich dir auch den anderen Grund nennen, vielleicht den Hauptgrund. Es bleibt dir überlassen, was du daraus machst.
Wenn ich drüber nachdenke, regt sich natürlich ein schlechtes Gewissen, ein gewisses Schuldempfinden. Vor allem aber bleibt ein Gefühl von Verlust. Das ist am schlimmsten. Mir fehlen die Trinksprüche und der Schnee. Mir fehlt die Neonpracht auf dem Bulwar mitten in der Nacht. Mir fehlt Mascha. Mir fehlt Moskau.
Impressum
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel 'Snowdrops' bei Atlantic Books Ltd., London
©A. D. Miller, 2011
Für die deutsche Ausgabe:
© 2012 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hissmann, Hamburg, nach einer Idee von www.headdesign.co.uk Umschlagabbildung :© ITAR-TASS Photo Agency / Alamy / Mauritius
Coverabbildung: hißmann, heilmann, hamburg
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ISBN 978-3-10-402336-6
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