Die Eisläuferin
doch ab morgen wollte sie ja selbst nicht mehr Staatseigentum sein.
Der Radiowecker war verstellt. Sie drehte am Sender, immer noch gedankenverloren. Rolling Stones. Ach, wann würden diese Wolken, die sich morgens vor jeden verdammten vorangegangenen Tag schoben, endlich verschwinden? Wo würde sie all das hinführen? Man konnte wahrlich nicht behaupten, sie hätten es nicht versucht. Schöne Musik, dachte sie, immerhin. Wenigstens an dieses Lied würde sie sich noch erinnern können.
Er schlief kaum in dieser Nacht. Es war das Nervenkitzeln und die nicht enden wollenden Gedanken, die man sich machte, wenn man den Dingen auf den Grund gehen wollte. Er war kein Stückchen weitergekommen. Natürlich, und zu diesem Schluss rang er sich durch, hatte man als Ehepartner stets eine gewisse Verantwortung für den anderen, an guten wie an schlechten Tagen. Die Ehe mit dieser Frau war jetzt geradezu subversiv geworden, die gewagteste aller Überschreitungen, wenn sie es nicht vorher schon gewesen war. |221| Sehr erstaunlich. Sie war pures Adrenalin, mehr als jedes Abenteuer, jede Affäre es hätte sein können. Ihre Ehe war zu einer Staatsaffäre, bis dass der Tod sie schied, geworden. Doch jetzt schien gar die Zukunft der Regierung zu einem nicht unerheblichen Teil in seinen Händen zu liegen. Er war mittlerweile für die emotionalen Zentren in ihrem Gehirn zuständig, und er war vor allen Dingen eines: der Filmvorführer, der Cutter, »Master of the Memories« sozusagen. Und dass er darin einen ganz eigenartigen Reiz verspürte, beunruhigte ihn noch mehr.
Gut, er konnte ihnen allen einfach den Gefallen tun und genau das veranlassen, was auch sie ihm aufgetragen hatte, also den Weg des geringsten Widerstands gehen. Das gab Aussicht auf mehr Ruhe, auf ein abgespecktes Leben ohne Sicherheitspersonal, ohne Kameras beim Opernbesuch, ohne die Last der Verantwortung und des Gewissens. Er wusste, dass es sie dann und wann quälte, blutverschmierte Hände schütteln zu müssen, unliebsame Kompromisse einzugehen, um noch Schlimmeres zu verhindern, und den Herren in den anthrazitfarbenen Business-Anzügen eine letzte Chance zu geben, wo man doch eigentlich am liebsten die Guillotine auf den öffentlichen Marktplätzen wieder eingeführt hätte, rein gedanklich selbstverständlich. Was hatte sie bloß in diesen Knochenjob getrieben?
Sie hatten schon überlegt, den Fernseher abzuschaffen, um sich nicht das Elend und den Sumpf, durch den sie tagsüber höchstpersönlich waten musste, auch noch in ihrer Freizeit in die eigenen vier Wände zu holen. Vielleicht war es gut, dass sie es dann doch nicht getan hatten, dachte er, denn nun sah es so aus, als solle seine Frau über kurz oder lang erst einmal zu Hause bleiben. Was sollte sie da tun?
Er versuchte, es gedanklich durchzuspielen, sich vorzustellen, |222| wie sie ihre Zeit mit ausgedehnten Frühstücken in den Cafés der Umgebung verbrachte, Museen und Galerien besuchte, in denen sie weder die Erläuterungen unter den Exponaten noch die Preise der Gemälde würde lesen können. Hier und da ein Interview, ein Aufsichtsrats- und Schirmherrinnenposten, ein selbst gemachter Pflaumenkuchen, ansonsten Kosmetik, Sport, Yoga, Mal- und Schnitzkurse? Nein, das alles war, was seine Frau betraf, undenkbar. Sie würde erst recht krank werden. Natürlich war sie zu alt, um sich noch Illusionen über ihr Tun zu machen, aber auch nicht alt genug, um aufzugeben. So also nicht. Und einen Abgang wegen einer läppischen roten Ampel beziehungsweise dem Leugnen derselben würde er ihr definitiv ersparen. Es auf eine unspezifische Müdigkeit an der Politik zu schieben war ein Argument wie eine aufgewärmte Tütensuppe, man würde es ihr auch nicht abnehmen. Das hatten andere vor ihr versucht, und er wollte erst gar nicht darüber nachdenken, wie es vielleicht um deren Gedächtnis gestanden hatte. Bretter fielen schließlich jederzeit und überall auf der Welt zu Boden.
Gegen sechs Uhr stand er auf und zog sich an. An diesem Punkt war er schon einmal gewesen, damals in der Klinik. Und jetzt würde er sich wieder genauso entscheiden wie damals, würde ihr und sich verdammt noch mal treu bleiben. Kurzum: Er würde es durchziehen, schweigen und sie wieder hinausschicken ins Land, Schmerzen und ziemliche Schwierigkeiten in Kauf nehmen. Volles Risiko also, sie hatte ohnehin an jedem Tag die Wahl, konnte jeden Tag aufs Neue die Verpflichtung annehmen oder auch nicht. Und er war sich sicher, dass ihr Elan
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