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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Münk
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ihr ein Schnippchen schlagen und ihren gestrigen Entschluss vergessen machen würde, auch jetzt noch, im Stadium fortschreitender Genesung. Denn die Macht war nichts Flüchtiges. Sie saß ihr in allen |223| Knochen und war hartnäckiger als jedes Zugeständnis an sich selbst.
    Noch bevor sie aufwachte, legte er es leise auf ihren Nachttisch neben den Teller, auf dem der Pfirsich noch unangerührt lag. Er tat einen Schritt zurück und betrachtete das Bild von ihnen beiden, das er vor wenigen Tagen abends in der Küche aufgenommen hatte. Es war schön geworden. Von der bläulich schimmernden Luft über den flambierten Pfirsichen hatten seine Augen fast die Farbe des Baikalsees, fand er.
     
    »Wo ist Dimitrij?« Das war ihre erste Frage nach dem Aufwachen.
    Er würde jetzt aufs Ganze gehen, rücksichtslos, ohne Vorwarnung: »Er hat dich an die Presse verraten, Liebes, gegen eine hübsche Summe, er wird jetzt wohl im Westen untertauchen und es sich gut gehen lassen.«
    Sie war hart im Nehmen, das wusste er, und auch jetzt lief nur eine einzige Träne über ihre Wange. Stattdessen aß sie erst einmal seinen Pfirsich, den sie am Abend vorher noch verschmäht hatte, biss hinein, als sei es eine Gewohnheit, die sich der Körper zu eigen gemacht hatte, ohne dass der Kopf wusste, warum. Solche Momente waren die schönen Seiten der Amnesie. Und vor allem schien sie keinen Verdacht zu schöpfen, kein einziger nachtragender Blick, kein Zucken in den Mundwinkeln, der Akku war wieder prall gefüllt. Sehr wohl erinnerte sie sich an flambierte Pfirsiche, Schlittschuhe, Motorräder und Herrn Bodega mit der Sonnenbrille, nicht an alle Einzelheiten selbstverständlich, aber hier und da an ein Gefühl, das damit verbunden gewesen war. Es war bemerkenswert, dass ihr Hippocampus eine sehr wohlwollende Selektion der Realität vorzunehmen schien. Wenn es hier einen Chip gegeben hätte, so war |224| dieser mit Sicherheit recht unpolitisch und erst recht nicht kommunistisch programmiert, befand er, sondern eher etwas sentimental.
     
    Sie durfte die Memory-CDs und ihre abendlichen Videoaufnahmen eigentlich nicht unbetreut ansehen, aber heute setzte sie ihn einfach vor die Tür, und er konnte das verstehen. Nur eine Frage wollte er ihr an diesem Morgen noch stellen: »Liebes, es steht dir frei. Du musst dir das alles nicht antun. Könntest du dir vorstellen, einfach Deinen, nun ja, wie soll ich sagen, Rücktritt zu erklären?«
    Sie schaute noch nicht einmal auf, zielte mit der Fernbedienung auf den Bildschirm und drückte ab, immer wieder. »Nein, erst will ich sehen, wie das ist. Guck mal, an den erinnere ich mich schon!« Sie hatte den Oppositionsführer auf dem Bildschirm, und es war fast schon wieder bedenklich, dass ausgerechnet er es in ihr Gedächtnis geschafft hatte.
    »Wenn ich gesund werden will, muss ich wohl im Amt bleiben.«
    »Und wenn ich dir sagen würde, dass du gestern alles hingeworfen hast?«
    »Kann nicht sein, glaube ich nicht.« Damit schien die Sache für sie erledigt zu sein. Als er ein letztes Mal auf den Bildschirm blickte, bevor er ihr Zimmer verließ, war sie bereits beim stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. Total restart also.
    Ihm war schon viel wohler zumute. Man konnte ihm nun wenigstens nicht mehr vorwerfen, dass er es ihr nicht nahegelegt hatte, dachte er. Und seine Rechnung war aufgegangen. Er fand es selbst bemerkenswert, hatte nach all der Zeit immer noch keine Ahnung, woher diese Frau jeden Morgen ihre Kraft nahm. Es musste einen unbändigen Willen in |225| ihr geben, einen Instinkt, der genau in den letzten zwanzig Jahren begründet liegen mochte, die sie vergessen hatte. Es war in ihr wie ein Tier, das überleben wollte.
    Die Zeit bis zum Anruf des MAV würde er für einen Blick auf die Schlagzeilen in den Tageszeitungen nutzen. Seine Frau erkannte er so gut wie nie darin wieder, zumindest nicht so, wie er sie neben sich erlebte, aber manchmal las er so was auch ganz gerne.
    Er ging zur Haustür und nahm den Zeitungsstapel mit in die Wohnung, schloss die Tür hinter sich und verbrachte den Rest der Zeit im Flur. »Ihr persönlicher Turnaround«, lautete die erste Schlagzeile, die ihm ins Auge fiel, darüber eine ihrer Drehungen auf dem Eis. Er griff zu nächsten Zeitung: »Unsere neue Kati« und »Hell’s Angie«, mit Fotos am Motorrad. Ohne sich näher in die Texte zu vertiefen, bekam er eine Vorahnung. Er blätterte schneller, überflog die Fotos und Zeilen, bekam dunkle Fingerkuppen. Er lief

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