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Die Eismumie

Die Eismumie

Titel: Die Eismumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Bonansinga
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der Nachdruck in Groves Stimme ließ beide Frauen augenblicklich verstummen. Eine ganze Weile herrschte betretenes Schweigen im Zimmer. Grove drehte sich zur Seite. Vida starrte zu Boden. Maura stand da, entgeistert über diesen unerwarteten Ausbruch.
    Schließlich durchbrach sie aber die Stille: «Ich dachte, sie hätte ein Recht darauf, es zu erfahren, Ulysses. Sie ist Ihre Mutter.»
    Grove warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. «Sie haben keine Ahnung, wer sie ist, und Sie haben auch keine Ahnung, wer ich bin.»
    Maura wandte sich ab, als hätte ihr jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt.
    Vida reckte ihrem Sohn trotzig den Kopf entgegen, und ihre wollige graue Haarfülle hatte etwas Aristokratisches. «Mtoto, ich bin nur hergekommen, weil…»
    «Ich möchte dich ganz gewiss nicht kränken», unterbrach Grove und sah seiner Mutter in die riesengroßen traurigen Augen. «Aber ich brauche keine Stammesamulette oder Hühnerknochen oder Regentänze – mir geht es gut. Verstanden? Und nun muss ich mich ausruhen, wenn du nichts dagegen hast. Danke für deinen Besuch. Ich weiß deine Mühe zu schätzen, aber jetzt möchte ich bitte allein sein.»
    Nach einer langen und quälenden Pause nahm Maura behutsam den Arm der älteren Frau und führte sie aus dem Zimmer.
    Das Irving Potok Center for the Analysis of Forensic Evidence – unter Insidern nach den Anfangsbuchstaben CAFE genannt – ist sozusagen die Heimstatt der Polizeilabors. Das flache Backsteingebäude, das an einer belebten Straßenecke im Pike-County-Marktviertel von Seattle steht, bietet seinen Kunden – von Regierungsbehörden bis zu Biologieklassen am Junior-College – Haar-, Faser-, Blut und DNA-Analysen an. Und wie viele andere normale Cafes ist dieses CAFE vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet und ständig gut besucht.
    Im feuchten Untergeschoss mit dem beengten Labyrinth aus Arbeitsnischen mit Kathodenstrahlmonitoren wimmelt es in der Regel von Pathologen und Assistenzärzten, die Beweismaterial sammeln, um irgendwelchen Bürokraten deren Kopfschmerzen zu nehmen. Nur höchst selten geschieht es, dass sich ein Wissenschaftler – ein Archäologe oder Geologe – ins CAFE verirrt, um die Authentizität einer Probe oder eines Fundstücks überprüfen zu lassen. Und noch niemals in der bisher elfjährigen Geschichte des Instituts hatte Laborpersonal ein so seltsames und zusammengewürfeltes Trio gesehen, wie es heute in einer der abgeteilten Nischen hockte und auf die Ergebnisse eines DNA-Tests wartete.
    «Und hier kommt es», sagte Michael Okuda mit einem Nicken in Richtung Bildschirm. Er saß auf einem Drehstuhl, zitternd, weil er lange kein Heroin mehr geschnupft hatte. Sein Haar war zerzaust, und seinen blutunterlaufenen Augen sah man an, wie übermüdet er war. Professor Moses De Lourde stand hinter ihm, die Arme über dem zweireihigen Jackett seines piekfeinen weißen Anzugs gekreuzt. Father Carrigan stand, auf seinen Stock gestützt, etwas weiter abseits in der Ecke.
    Die erste Sequenz flimmerte über den Bildschirm, ein Muster aus schwarzen und weißen Streifen, das einem sehr komplizierten Strichcode ähnelte.
    «Und das ist jetzt – was? – die DNA des Eismannes?», wollte De Lourde wissen.
    Okuda nickte und starrte auf den Computer. Weitere Strichcodes tanzten über den Monitor – die Kopfzeilen und Schlüsselcodes zumeist numerisch. Okuda musste sie mit einem Leitfaden abstimmen, den er von einem Laborassistenten bekommen hatte. Übernächtigt wie er war, konnte er nur verschwommen sehen und musste die nervöse Anspannung wegblinzeln. Sein Zittern wurde schlimmer. Schließlich sah er seinen vagen Verdacht im pulsierenden Licht eines glimmenden Kathodenstrahls bestätigt.
    «Der Herr sei uns gnädig», kommentierte Professor De Lourde, als die letzte Sequenz etappenweise auf dem Monitor Gestalt gewann und das blaugrüne Licht sich auf Okudas und De Lourdes Gesichtern widerspiegelte: zwei völlig verschiedene Matrizen, die einander überlagerten, als würde eine lumineszierende Insektenkolonie sich perfekt in Reih und Glied ordnen.
    «Ach, du heilige Scheiße», flüsterte Okuda staunend.
    Es war ihm wie ein großer Trugschluss erschienen, als er zum ersten Mal damit konfrontiert wurde. Aber die Übersetzung der Eismann-Tätowierungen hatte Okuda nicht mehr losgelassen. En-nu – en-nu-un – frei übersetzt als «Beschütze uns, dieweil wir sie beschützen». Zuerst hatte Okuda angenommen, dass es sich um ein gewöhnliches Gebet

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