Die Eismumie
geschehen?»
«Es ist schwer zu erklären, aber es war eine Art von – wie sagt man? – Wendepunkt für mich. Ich nahm Kräuter, hielt jeden Abend ein Ritual ab. Ich betete darum, dass mein Sohn gesund geboren würde. Ich versuchte, daran zu glauben, dass mit ihm alles in Ordnung sein würde, und so geschah es. Er war klein, aber gesund.»
Maura bemerkte, dass der afrikanischen Frau Tränen in den Augen standen.
Maura berührte ihre Hand. «Mit ihm ist alles okay, würde ich sagen. Sie sind eine gute Mutter gewesen.»
Vidas Lachen klang sarkastisch und verbittert. «Das würde Ulysses nicht sagen. Es war wirklich meine Schuld, dass er mich so gehasst hat – »
«Das ist doch Unsinn.»
«Nein, verstehen Sie doch… mein Sohn wollte immer nur eines: Amerikaner sein. Er wollte Freunde haben und ein normaler amerikanischer Junge sein. Aber die Worte des Sehers sind mir nie aus dem Sinn gegangen. Nie. Ich nehme an, ich war zu… zu irgendetwas. Vielleicht habe ich den Jungen zu ‹afrikanisch› aufgezogen. Anders zu sein in dieser amerikanischen Kultur ist eine Sünde, und Kinder können grausam sein, sehr grausam…»
Ihre Worte verklangen, und sie schaute durch die schmutzige Glasscheibe auf die verlassenen regennassen Straßen hinaus. Maura ließ das Thema ruhen.
«Es fällt mir schwer, es auszusprechen», sagte sie schließlich, «aber ich glaube, dass ich mich in Ihren Sohn verliebt habe.»
Vida nickte und sagte, das sei ihr nicht verborgen geblieben. «Wie haben Sie es gemerkt?»
«Ich bin eine Frau.»
Damit war das Thema beendet. Sie unterhielten sich eine Weile über Nebensächliches, bis Maura sagte: «Ich muss zurück an meine Arbeit, zurück nach San Francisco.»
Vida wirkte enttäuscht. «Werden Sie sich von Ulysses verabschieden?»
Maura lächelte niedergeschlagen. «Das habe ich schon.»
Sie zahlten, standen auf und gingen zur Tür. Der Regen hatte nachgelassen, aber in der nasskalten Luft lag Gewitterspannung. Die beiden Frauen umarmten einander, verabschiedeten sich und gingen dann in verschiedenen Richtungen davon.
Maura blickte nur einmal zurück auf die traurige, elegante Dame, die ins Dunkel verschwand. Ganz kurz fragte sie sich, ob sie die Frau wohl jemals Wiedersehen würde. Sie glaubte es nicht. Sie hatte das Gefühl, als sei ihre Rolle in diesem Drama zu Ende.
Schon sehr bald sollte sie jedoch erleben, wie falsch sie in beiderlei Hinsicht lag.
Kapitel 21
Alles ist ein Ritual
Irgendwann im tiefsten Abgrund der Nacht hatte Ulysses Grove eine neue Vision.
Diesmal war er der Eismann, und er drohte zu ersticken. Vergraben unter Tonnen von Schnee. Nach Luft ringend. Von Krämpfen geschüttelt. Sterbend. Alles, was er über sich sehen konnte, war ein schlangenähnliches schwarzes Objekt, das sich durchs Eis in seine Richtung grub.
Zuerst dachte er, es wäre eine Schlange. Durch Schnee und Matsch nur verschwommen zu erkennen, aber pulsierend und voller Leben kroch das dunkle Objekt näher und näher. So grässlich und furchterregend wirkte es auf Grove, dass er laut schrie. Er drehte sich weg von diesem entsetzlichen Ding, das es auf ihn abgesehen hatte, über alle Maßen bedrohlich und verpestet von Krankheit und Übel.
Grove erschauerte im Todeskampf, mit beinahe berstenden Lungen und einem Körper, der gefühllos, gelähmt und nutzlos war. Er stieß einen Schreckensschrei aus, als das Objekt nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt durchs Eis brach.
Die Hand war uralt und schwarz, die Hand eines mumifizierten Leichnams, und sie winkte Grove herbei, lockte ihn: Wenn er es doch nur verstehen würde, es akzeptieren würde, sich ihm anheim geben würde. Berühre die Hand! –
–und in dem Moment wurde er buchstäblich ins Hier und Jetzt zurückkatapultiert.
Er beugte sich in der Dunkelheit des Krankenhauszimmers mit einem Ruck nach vorn, keuchend und wie von der Tarantel gestochen. Er brauchte einen Moment, um Luft zu holen, und noch eine ganze Weile, um festzustellen, dass er weinte. Die Tränen hatten bereits Salzspuren auf seinem Gesicht hinterlassen und den Kragen seines Baumwollnachthemds durchnässt. Was ist nur los mit dir?!
Aber je mehr er gegen diese Tränen ankämpfte, desto schwerer lastete die schwarze Leere des Albtraums auf ihm – bis er ihnen schließlich freien Lauf ließ.
Er lag eine Zeit lang nur da, gestattete sich seine Gefühle, bis sein leises, bitteres und atemloses Weinen den leeren Raum füllte. Tropf und Monitore waren abgestellt und
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