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Die Eismumie

Die Eismumie

Titel: Die Eismumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Bonansinga
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ausgeschaltet, und sein Schluchzen ging in der Stille auf… bis Grove endlich merkte, dass es nicht das einzige Geräusch im Zimmer war.
    Zuerst klang es nach einem elektronischen Summen, das von Groves Schluchzen gerade noch übertönt wurde, aber je deutlicher es zu hören war, desto aufmerksamer lauschte Grove… und je mehr er lauschte, desto leiser und weniger wurden seine Klagelaute. Es dauerte nicht lange, bis er ganz zu weinen aufgehört hatte. Jetzt bemühte er sich einfach nur, Luft zu holen, aber seine Atmung geriet immer wieder ins Stocken, dann rang er wie ein verschreckter kleiner Junge keuchend nach Luft. Er hörte genauer auf das summende Geräusch und wurde sich bewusst, dass noch jemand in seinem Zimmer war.
    «Was…?»
    Als ein Schatten über seine Schulter schwebte, zuckte er zurück und stieß unwillkürlich einen leisen Angstschrei aus. Der Schatten reagierte mit einem besänftigenden Gurren, dann tauchte aus dem Nichts eine Hand auf, die sich leicht auf Groves Unterarm legte.
    Er senkte den Blick und erkannte die Hand seiner Mutter. Vida war also bei ihm. Ihre Stimme hatte er in der Dunkelheit gehört, wie sie leise ein afrikanisches Wiegenlied gesummt hatte, um ihn zu beruhigen.
    «Mom?»
    «Jetzt ist alles in Ordnung», flüsterte sie. «Ich bin hier, Uly, ich bin bei dir.»
    Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und Grove sah seine Mutter auf einem Hocker neben dem Bett sitzen. Durch die Rollläden fiel ein schmaler Strahl Mondlicht auf sie. Sie beugte sich über das Bettgitter und legte Grove ihren schlanken Arm um die Schultern. Ihre Berührung und Wärme weckten augenblicklich eine Mischung widerstreitender Gefühle in Grove – Scham, Einsamkeit, Reue –, die letztlich erloschen wie eine Flamme, die keine Nahrung mehr findet.
    Grove spürte eine neue Welle von Schluchzern aufsteigen und setzte sich nicht dagegen zur Wehr.
    Er beugte sich hinüber und weinte in den Armen seiner Mutter. Er weinte um all die Jahre der verhohlenen Feindseligkeit gegenüber seiner Mutter, um all die Jahre des Unmuts, des Treuebruchs und des fehlgeleiteten Zorns. Vida hielt ihn in den Armen und summte ihr sanftes Wiegenlied. Bald fing sie zu singen an, ein wenig falsch und mit rauchiger Stimme. Das Lied durchbrach Groves Schmerz, und er erkannte es: ein altes Wiegenlied aus Sambia mit dem Titel «Mayo Mpapa», ein Volkslied, das die Kinder lehrt, welchen Schutz sie von ihren Eltern erfahren.
     
    Mayo mpapa naine nka ku papa
    Ukwenda babili kwali wama pa chalo,
    Ndeya ndeya ndeya no mwana ndeya
    Ndeya no mwana wandi munshila ba mpapula,
    Munshila ba mpapula
    Iye, iye, iye yangu umwnaa wandi
    Yangu umwana wandi mushila ba mpapula.
     
    Mutter, trage mich
    Eines Tages werde ich für dich sorgen
    Es ist nicht gut, allein zu sein auf dieser Welt
    Mutter, trage mich
    Eines Tages werde ich auch dich tragen
    So wie ein Krokodil seine Jungen auf dem
    Rücken trägt.
     
    Als sie zu singen aufgehört hatte, hielt Vida ihren Sohn in der Dunkelheit fest umarmt. Grove blieb stumm. Irgendwie spürte er, dass eine Veränderung in ihm vorgegangen war.
    Irgendwann kletterte er aus dem Bett und schaltete das Licht an. Dann schob er einen Sessel auf die andere Seite des Betts, damit seine Mutter bequem sitzen konnte. Sein Gesicht brannte, wo die Tränen trockneten.
    Dann sprachen sie miteinander. Sprachen bis weit in die frühen Morgenstunden. Sie redeten und redeten. Über die alten Tage in Chicago, über die alte Nachbarschaft und über alte Verwandte, die gestorben waren. Über manche Dinge lachten sie, bei anderen verstummten sie. Einmal fasste Vida die Hand ihres Sohnes, und Grove machte keine Anstalten, sie wegzuziehen. Es war, als könne Grove zum ersten Mal in seinem Erwachsenenleben klar sehen.
    Schließlich kam ihr Gespräch auf ihr gestörtes Verhältnis zurück.
    «Es tut mir Leid, Mom», sagte Grove. «Mir tut so vieles Leid. Ich hätte…»
    «Bitte, Uly», unterbrach sie ihn. «Sag niemals, dass es dir Leid tut.» Sie lächelte, als sie sein erstauntes Gesicht sah. «Es gibt keinen Grund für Entschuldigungen, denn die Geister haben gewollt, dass es so geschah.»
    Grove lächelte zurück, aber nur kurz. Das Lächeln verging ihm, als er sich fragte, was die Geister wohl noch an Überraschungen für ihn bereithielten.
    Nach dem Gespräch mit seiner Mutter schlief Grove für fast vier Stunden tief und fest, während Vida in der Ecke saß, las und ihrem Sohn beim Schlafen zusah. Und während dieses kurzen

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