Die Eismumie
Badezimmers, wo ihre Kleider auf einer Ablage verteilt lagen. Ein kleines Reiseetui aus imitiertem Leopardenfell enthielt ihre Make-up-Utensilien: zwei verschiedene Lippenstifte, einen Eyeliner, eine Packung Q-Tips und ein Schälchen Rouge, das sie seit Jahren nicht mehr benutzt hatte. Sie betrachtete ihr blasses Gesicht im Spiegel. Es kam ihr albern vor, sich für das bevorstehende Abendessen hübsch zu machen. Du liebe Güte, sie war eine Journalistin, und Grove war Gegenstand ihrer Recherche. Außerdem war der Mann verheiratet. Bereits bei ihrem ersten Zusammentreffen hatte sie nach wenigen Minuten seinen Ehering bemerkt.
Warum stand sie also hier vor dem Spiegel und putzte sich heraus wie eine Schülerin vor dem Abschlussball der Highschool? Wen wollte sie beeindrucken? Ein Jahrzehnt voller flüchtiger und zerbrochener Beziehungen hatte Maura zu einer verzweifelten Frau werden lassen, die sich in einer Welt der Fast-Food-Beziehungen nach Bestätigung und ehrlicher Liebe sehnte. In den vergangenen Monaten hatte sie sich sogar bei einer Partnervermittlung im Internet umgetan – mit katastrophalen Ergebnissen. Der letzte Mann, den die Suchmaschine ihr als idealen Partner ausgespuckt hatte, war ein absoluter Versager aus San Rafael gewesen, der seine zweite Scheidung noch nicht verwunden hatte. Der Kerl hatte Maura in eine Live-Sex-Show im O’Farrel geschleppt und war anschließend mit ihr ins Sybaris gegangen, wo sich die Leute den Abend mit leichten Fessel- und Unterwerfungsspielen vertrieben. Das hatte ihr den Appetit auf computergenerierte Liebesabenteuer bis auf weiteres verdorben.
Maura bürstete sich das Haar zu einem straffen Pferdeschwanz zurück und zog kräftige Lidstriche. In Gedanken arbeitete sie bereits an ihrem Artikel über die Mumie. Grove war beim Anblick der Leiche auf etwas gestoßen, das ihn sehr beunruhigte – sein seltsames Verhalten und die merkwürdigen Fragen, die er Mathis gestellt hatte, ließen keinen anderen Schluss zu. Maura fragte sich, was er wohl gesehen haben mochte. Wenn man bei einer schwierigen Recherche in einer vertrackten Situation steckte, bot sich oft völlig unerwartet ein neuer Zugang. Maura hatte das unbestimmte Gefühl, dass Grove vielleicht der Schlüssel in dieser Geschichte sein könnte. Groves Ablehnung, sich näher zu erklären, bevor sie sich zum Abendessen trafen, strapazierte ihre Geduld, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass er etwas Wichtiges enthüllen würde.
Ihr Blick wanderte zu der Fotokopie, die sie am Rand des Spiegels befestigt hatte.
Als sie im Motel eingetroffen war, hatte Maura zunächst ihre Notizen und Tonbandkassetten geordnet. Sie hatte einige Fotokopien von den Bildern der Mumie mitgebracht, die aus ihren vorherigen Artikeln stammten. Ein paar davon hatte sie im Zimmer an die Wand geheftet, um sich von ihnen inspirieren zu lassen. Von dem Foto am Spiegel blickten sie das uralte Gesicht und die weißen, ausgetrockneten Augen der Mumie an. Etwas höchst Verstörendes lag in dem Ausdruck, der in den ledernen Gesichtszügen erhalten geblieben war. Es war Maura zunächst wie Entsetzen vorgekommen, das die Züge des Eismannes in einer Art Schock verzerrt hatte. Aber je länger sie das Foto studierte, desto mehr gewann sie den Eindruck, dass sich etwas Wissendes in dem Gesicht eingeprägt hatte. Was hatte dieser Mann gesehen? Welches schreckliche Wissen hatte er mit ins Grab genommen?
Maura schreckte auf, als es an der Zimmertür klopfte.
Sie brauchte einen Moment, um sich zu fassen, bevor sie zur Tür ging.
«Sind Sie fertig?», fragte Ulysses Grove, als sie ihn bat einzutreten. Sie begrüßte ihn mit einem schwachen Lächeln. Grove hatte seinen Mantel bis zum Hals zugeknöpft und den Kragen gegen die abendliche Kälte hochgestellt.
«Ich brauche nur noch meinen Mantel und das Tonbandgerät», sagte sie und ging zum Bett, wo ihre Notizen ausgebreitet auf der Überdecke aus billigem Taft lagen.
«Was das Bandgerät betrifft… ich würde Sie bitten, es nicht mitzunehmen», sagte Grove.
Maura drehte sich um. «Sie wollen sich also inoffiziell mit mir unterhalten?»
«Ja, so könnte man das ausdrücken.»
Sie benetzte die Lippen mit der Zunge. «In Ordnung, aber versprechen Sie mir eines: Was immer es ist, das Sie heute im Labor gesehen haben – wenn die Zeit gekommen ist, werde ich exklusiv über die Geschichte berichten, kein Wort davon an andere Journalisten.»
Nach einer kurzen Bedenkpause willigte Grove ein: «Also gut. Und nun lassen
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