Die Eismumie
sah hinüber zu Okuda und bemerkte den ungläubigen Blick des jungen Wissenschaftlers. «Ich verstehe immer noch nicht, wie Sie einen Zufall ausschließen können», sagte dieser, nachdem er einen Schluck Bier getrunken und ein peinliches Aufstoßen mühsam unterdrückt hatte.
«Theoretisch haben Sie ja Recht», erwiderte Grove, «die Wahrheit ist aber, dass man in meinem Geschäft bis zum logischen Schluss nichts ausschließen sollte.»
«Aber wo verbirgt sich in diesem Falle die Logik?»
Grove betrachtete die eingetrockneten Flecken auf der hölzernen Tischplatte. «Wir haben im Moment nur eine Verbindung. Eine visuelle Verbindung. Das ist alles.»
«Okay… und?»
«Vielleicht haben wir es mit einer Art Ritual zu tun, irgendeiner kultischen Zeremonie, die von vorzeitlichen Menschen inspiriert wurde», mutmaßte Grove.
Okuda blickte für einen Augenblick nachdenklich zur Seite, und Maura bemerkte ein Aufglimmen seiner Augen. Grove sah es ebenfalls, sagte aber nichts. Okudas Hände begannen wieder zu zittern. Grove fragte sich, wie ein junger Mann mit einem so ausgeprägten Tremor die feinmotorische Arbeit an einem Mikroskop durchführen oder ein unbezahlbares Werkzeug restaurieren konnte – unabhängig davon, ob das Zittern lediglich ein nervöser Tick oder eine Reaktion darauf war, welche Richtung das Gespräch in den vergangenen Minuten genommen hatte.
«Andererseits», fuhr Grove fort, «muss man auch die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass wir es mit einem Trittbrettfahrer zu tun haben.»
Maura horchte auf. «Aber wie könnte jemand…?»
«Es sind doch Bilder von der Mumie veröffentlicht worden, richtig? Fotos, Karten und Diagramme, aus denen man die genaue Lage und Haltung der Mumie entnehmen konnte.»
Maura dachte einen Moment darüber nach. «Was wollen Sie damit sagen? Dass irgendein kranker Typ den Eismann im Discover Magazine gesehen und ihn dann als Vorbild für seine Morde verwendet hat?»
«Das ist eine Möglichkeit, die wir in Betracht ziehen sollten.»
Okuda schaute Grove fragend an. «Ist das alles?»
Grove seufzte. «Ob das alles ist? Nun, da gibt es den Faktor X.»
«Das heißt?»
«Der Faktor X ist eine Verbindung, auf die wir bis jetzt noch nicht gestoßen sind.»
«Was für eine andere Verbindung wäre denn noch möglich?»
«Das weiß ich noch nicht.»
«Wir sprechen hier über die frühe Kupferzeit», rief Okuda ihm in Erinnerung.
«Das ist mir bewusst – »
«Das ist sechstausend Jahre her. Damals hatten sie gerade das Rad erfunden.»
«Wenn es Ihnen nichts ausmacht, wäre es mir lieb, wenn Sie mir mehr darüber erzählen könnten.»
Okuda musterte ihn verdutzt. «Meinen Sie das ernst?»
«Ja, bitte, erzählen Sie mir von jener Zeit. Berichten Sie mir alles über diesen Eismann, wer er war und über seine Lebensumstände.»
Okuda sank in sich zusammen, als sei er gerade aufgefordert worden, mit einem Anker um den Hals durch den Ärmelkanal zu schwimmen. «Das ist ein ziemlich umfangreiches Thema, Ulysses.»
Grove bedachte ihn mit einem breiten Lächeln. «Dann schießen Sie los. Ich habe heute Abend nichts vor.»
Sie bestellten die nächste Runde, während Okuda beschrieb, wie die Welt vor sechstausend Jahren ausgesehen hatte. Die Bar füllte sich langsam mit lärmenden College-Studenten und angegrauten Städtern, die an einem einsamen Abend ihren Kummer ertränken wollten. Die Musikbox schien mit jedem trivialen Popsong lauter zu werden, und Okuda musste seine Stimme strapazieren, um sich Gehör zu verschaffen. Er berichtete, dass der Eismann nach einhelliger Meinung der Archäologen Europäer oder zumindest ein Ureinwohner Zentralasiens war, der den nordamerikanischen Kontinent über die Beringstraße erreicht hatte. Aus den Werkzeugen, die man bei ihm gefunden hatte, ließ sich mit einiger Wahrscheinlichkeit schließen, dass er Bergbewohner gewesen war, vielleicht aber auch jemand, der sich auf Wanderschaft befand.
Die Kellnerin kam an den Tisch und erkundigte sich, ob sie etwas zu essen bestellen wollten. Niemand war hungrig, aber sie bestellten noch eine Runde Getränke. Als sie wieder alleine waren, sagte Okuda: «Er könnte ein Schamane gewesen sein, jemand, der von Dorf zu Dorf zog und die Menschen heilte… verstehen Sie?»
«Sie meinen, er war eine Art Medizinmann?»
Okuda nickte. «Deswegen ist die Kupferzeit eine so faszinierende Epoche – anthropologisch gesehen –, denn im Grunde gab es zuvor so etwas wie Gewerbe oder Spezialgebiete
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