Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Eismumie

Die Eismumie

Titel: Die Eismumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Bonansinga
Vom Netzwerk:
nicht.»
    «Was meinen Sie damit?»
    «Vor der Kupferzeit lebten und arbeiteten die Menschen größtenteils eigenständig; sie machten alles selber: Sie betrieben Landwirtschaft, betreuten ihre Kinder, bauten sich ihre eigenen Wohnstätten, sie jagten – jeder war für alles zuständig. Doch um viertausend vor Christi begannen die Menschen spezielle Fertigkeiten zu entwickeln…»
    «… und die ersten Berufe entstanden?», beendete Grove den Satz.
    «Sehr richtig. Es gab jemanden, der die Unterkünfte baute, einen anderen, der sich darauf verstand, Werkzeuge herzustellen, und ein Dritter spezialisierte sich auf Reparaturarbeiten. Damit änderte sich alles.»
    Grove schwenkte die Eiswürfel im Whiskyglas. «Er war also ein wandernder Medizinmann.»
    «Das sind natürlich alles nur Vermutungen», fuhr Okuda fort, «aber wir können aus den Utensilien, die wir an seinem Körper und um ihn herum gefunden haben, eine Menge ableiten. Der Körper ist in dieser Schneekapsel sehr gut erhalten geblieben, und wir entdeckten viele Dinge, die unseren bisherigen Erkenntnissen entgegenstanden. Wie zum Beispiel die Axtklinge.»
    «Was ist damit?»
    «Bisher nahmen wir an, dass Axtklingen aus der Kupferzeit primitive Werkzeuge mit einem relativ flachen Blatt waren. Keanu hatte jedoch ein Randleistenbeil bei sich, ein sehr fortschrittliches Gerät. Es ist, als würde man das Grab eines Kriegers aus dem Mittelalter öffnen und darin eine Schrotflinte finden.»
    «Wissen Sie etwas über die Sprache, die Kultur oder die religiösen Überzeugungen dieses Mannes?»
    «Auch da kann man nur spekulieren, aber wahrscheinlich ist, dass er Indogermanisch gesprochen hat. Die meisten europäischen Sprachen gehen darauf zurück. Was die Religion betrifft, würde ich auf Polytheismus tippen, besonders im Hinblick auf die Tätowierungen.»
    «Erzählen Sie mir mehr über die Tätowierungen.»
    «Sie entsprechen natürlich nicht den Tätowierungen unserer Tage, die ja letztlich nur simple Verzierungen sind. Keanus Körperbemalung befindet sich an verborgenen Stellen, zum Beispiel über dem Steißbein und an der Innenseite seiner Fußknöchel. Das deutet meiner Ansicht nach darauf hin, dass sie ihm übernatürliche Kräfte verleihen oder ihn beschützen sollten.»
    Die Kellnerin brachte die Getränke. Maura beobachtete Grove; er starrte in das verrauchte Halbdunkel der Bar. Das Schweigen legte sich wie ein Leichentuch über den Tisch. Noch lange nachdem die Unterhaltung wieder eingesetzt hatte, fragte sich Maura, was wohl in Groves Kopf vorgehen mochte.
    Auf welches dunkle Geheimnis waren sie gestoßen?
    Der Wind fegt durch den dunklen Korridor aus kahlen Bäumen. Wie der Gesang einer Todesfee klingt sein Heulen in den Ohren des Schamanen. Langsam setzt der Mann einen Fuß vor den anderen; die mit Gras ausgepolsterten Stiefel versinken knietief im Schnee. Seine Zehen sind vor Kälte bereits gefühllos. Im dichten Schneetreiben kann er kaum die Hand vor Augen sehen, während er die Gletscherspalte hinaufklettert. Er hat das Plateau beinahe erreicht. Es ist nicht mehr weit.
    Er bleibt stehen, um Atem zu holen.
    Er wendet sich um und blickt zurück auf das Tal der Lärchen, das sich weit in die Ferne erstreckt wie ein riesiges Tierfell, das das Land bedeckt. Die Sonne steht am Horizont in einem Meer aus Magenta und Gold. Die Temperatur sinkt. Bald wird es dunkel sein, und die Dunkelheit bringt neue Gefahren mit sich. Er muss sich beeilen.
    Bedächtig setzt der Schamane seinen Weg fort. Seine Muskeln schmerzen, die dünne, kalte Luft beißt bei jedem Atemzug in seinen Lungen. Er muss bald die Höhe von dreieinhalbtausend Metern erreicht haben. Der Wald ist lichter geworden, und nur noch vereinzelt ragen die kahlen Bäume wie verkrüppelte Finger aus dem Schnee. Riesige, von Eis überzogene Felsbrocken erheben sich hier und da aus der Schneefläche. Der Schamane bewegt sich immer nur wenige Meter voran, bevor er abermals stehen bleiben muss und den letzten Rest Sauerstoff aus der Luft in seine Lungen pumpt.
    Wieder hört er diesen Schrei. Er kommt aus weiter Ferne und steigert sich zu einem lauten Geheul, das durch den Wind gebrochen wird und unten im Tal widerhallt. Es ist ein Urschrei des Todes – halb animalisch, halb menschlich –, der dem Schamanen durch Mark und Bein fährt und ihn noch mehr erzittern lässt als die Kälte.
    Er bleibt bei einem Felsen stehen und greift mit einer Hand in den Hirschlederbeutel, der an seinem Strickgürtel hängt.

Weitere Kostenlose Bücher