Die Eismumie
den Raum. Es blieb einen Moment lang still, bis die Tür wieder ins Schloss gefallen war.
Michael Okuda schob die Hände in die Taschen und blickte zu Boden.
«Ich habe sie doch hoffentlich nicht gekränkt», wunderte sich Grove, ohne jemanden direkt anzusprechen.
Okuda schüttelte den Kopf. «Ganz und gar nicht. Ihr Verhalten hat mich auch ein wenig erstaunt. Gewöhnlich ist sie nicht so brüsk.»
Grove machte eine beschwichtigende Handbewegung. «Ist schon in Ordnung.»
«Sie ist ein brillanter Kopf.»
«Das glaube ich Ihnen gerne.»
«Zweifellos kann sie schwierig sein», versuchte sich Okuda weiter an einer Erklärung. «Und, ja, sie misstraut Außenstehenden. Aber ihre Arbeit ist tadellos. Glauben Sie mir.»
Grove nickte. «Das bezweifle ich nicht.»
«Sehen Sie, das Schiedsgerichtsverfahren um die Rechte an der Mumie steht unmittelbar bevor, und da ist es vielleicht nur natürlich, dass sie gegenüber Außenstehenden argwöhnisch ist.»
«Gibt es einen Hinweis auf den Ausgang des Verfahrens?»
«Ich würde mein Geld auf die indianischen Ureinwohner setzen», sinnierte Okuda, während er den Raum durchquerte. Er stieß einen Seufzer aus und hockte sich auf die Kante von Mathis’ Schreibtisch. Seine Hände zitterten. «Die Indianer haben die bundesstaatliche Verfassung auf ihrer Seite. Wir versuchen, so viel wie möglich herauszufinden, solange Keanu noch hier ist.»
«Wer?»
Okuda schmunzelte. «Es ist nur ein dummer Witz. Ein paar Jungs oben in der Radiokarbondatierung – große Matrix-Fans – haben die Mumie irgendwann mal ‹Neo› getauft wegen der neolithischen Herkunft.»
Grove war ratlos, und Maura musste sein Gesichtsausdruck aufgefallen sein, denn sie hörte zu schreiben auf und sagte: «Neo ist der Held, den Keanu Reeves in den Matrix-Filmen spielt.»
Das Lächeln in Okudas Gesicht wurde breiter. «Ja, und dann ging im Labor der Witz herum, dass die mimischen Fähigkeiten des Eismanns lebendiger wirken als die von Keanu Reeves. Seitdem trägt der Eismann diesen Zweitnamen… Aber das ist nur ein dummer Pennälerscherz.»
Grove erkundigte sich, ob man Bilder von dem Tatort gemacht habe.
Okuda sah ihn verwirrt an. «Von dem Tatort?»
«Vom Ort des Verbrechens, der Stelle, wo der Eismann gestorben ist.»
Okuda überlegte einen Augenblick, sagte aber schließlich, dass er sich nicht sicher sei. Er habe zwar ein paar Luftaufnahmen von dem Gletscher gesehen, ob es jedoch genaue Fotos von dem Ort gebe, könne er nicht mit Bestimmtheit sagen.
«Es wurden also keine Fotos gemacht, bevor die Leiche bewegt wurde?»
«Ich denke, das ist korrekt. Es gibt jedoch Zeichnungen.»
«Zeichnungen?»
«Ja, der Ermittler von der Mordkommission der State Police, Lieutenant Alan Pinsky – ich glaube zumindest, dass er so hieß –, ließ die Bergwanderer Skizzen von der Lage der Mumie anfertigen.»
Einen Moment lang herrschte Stille.
Maura sah Grove an. «Was haben Sie dort drin gesehen, Ulysses?»
«Das ist eine ziemlich lange Geschichte», sagte er und rieb sich die Augen. In seinem Kopf pochte es. Ein Anflug von Migräne stach in seinen Schläfen.
«Darf ich fragen, woher Sie wussten, dass es eine Wunde von einem scharfen Gegenstand gibt? Ich habe das nicht in der E-Mail erwähnt, und man hat die Wunde erst entdeckt, nachdem die Berichte in den Zeitungen erschienen waren – ich verstehe also nicht, wie Sie davon erfahren konnten.»
Grove sah Maura an und fragte sich, wie weit er gehen durfte und wie viel er ihr verraten sollte. Er fühlte sich bloßgestellt, die Kontrolle entglitt ihm. Das waren neue Empfindungen für Grove. Eigentlich hatte er in dieser abgelegenen Welt aus zerfurchten Straßen und verwitterten Holzstegen nur Zeit totschlagen sollen… doch nun hatte sich das Blatt gewendet. Das Schicksal hatte sich in Groves Welt geschlichen.
In einem Nachbarbüro bearbeitete eine Sekretärin die Tastatur ihres Computers. Das Klappern der Tasten drang durch die dünnen Türen herüber. Er wandte sich an Okuda. «Gibt es hier einen Ort, an dem wir uns ungestört unterhalten können?»
Die Abenddämmerung überflutete die Berge und die mit Eis überkrusteten Straßen mit indigoblauen Schatten.
Der Parkplatz des Marriott Courtyard – durch die Vorhänge von Maura Countys Hotelzimmer kaum zu sehen – lag im kalten und trostlosen Licht der Natriumdampflampen, die in unregelmäßigen Abständen flackerten.
Maura wandte sich vom Fenster ab und ging zurück in den kleinen Vorraum des
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