Die Eismumie
saß im Wagen und sprach hektisch in ihr Handy, wahrscheinlich mit ihrem Ehemann oder einem Angestellten der Mason-Dixon-Raststätte. Es war gleichgültig, denn es würde ihr ohnehin niemand mehr helfen können. Der Mann fand einen großen Stein und schleuderte ihn mit Wucht gegen das Heck des Honda.
Das Geräusch glich einem Pistolenschuss; Carolyn Kenly fuhr erschrocken zusammen, als hätte ihr jemand einen Schlag in den Nacken versetzt. Sie reagierte instinktiv, stieß die Tür auf und stolperte aus dem Wagen. Der Mann stand hinter einer Gruppe von Joshua-Bäumen und beobachtete sie. Die Frau stammelte weiter in ihr Handy, während sie über den verlassenen Highway rannte.
«WAS HAST DU GESAGT WAS HAST DU GESAGT?!», keuchte sie in Hörer. «DANNY, KANNST DU MICH HÖREN, DANNY, OH GOTT, WAS HAST DU GESAGT DANNY DANNNEEEEEEEE!!»
Der Mann war ihr dicht auf den Fersen.
Er hastete im Laufschritt über den festen Sand, nicht mehr als zwanzig Meter hinter ihr. Ohne aus dem Tritt zu kommen, griff er über die Schulter in seinen Köcher. Das gelang ihm von Mal zu Mal besser. Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er einen Pfeil aus dem Futteral, brachte ihn auf Augenhöhe in Anschlag und spannte den Bogen. Die Sehne vibrierte wie eine Stimmgabel. Er hielt den Atem an, zielte und ließ los.
Der Pfeil sirrte durch die Nacht.
Er traf die Frau so hart im Nacken, dass sie den Boden unter den Füßen verlor. Sie stieß ein heiseres Heulen aus und stürzte nach vorne. Ihr Körper krümmte sich im Sand wie eine Stoffpuppe, die von einem trotzigen Kind fortgeschleudert worden war.
Der Mörder kam näher.
Carolyn Kenly klammerte sich noch ein paar Minuten lang an ihr Leben. Sie rang keuchend nach Atem, erstickte fast an ihrem eigenen Blut, das aus der Wunde über ihr Gesicht lief, und krümmte sich in den Höllenqualen, die der durchbohrte Wirbel verursachte. Sie dachte an ihre Kinder und an ihren Mann, mit dem sie schon seit zweiundzwanzig Jahren verheiratet war. Und sie dachte an ihre Träume und Pläne, die sich niemals mehr erfüllen würden.
Sie horchte auf die gedämpften Schritte, die sich unaufhaltsam näherten.
Carolyn Kenlys Leben endete, als der Mann in ihr Sichtfeld trat und eine Zange mit gummiertem Griff aus seinem Werkzeuggürtel zog.
Ulysses Grove konnte nicht wieder einschlafen. Er hatte bereits alles Erdenkliche versucht – bis auf eine Schlaftablette, die er nur einnahm, wenn es absolut notwendig war. Er ging rastlos in seinem Zimmer auf und ab, während im Fernsehen eine Dauerwerbesendung lief und der Ventilator der Klimaanlage auf vollen Touren arbeitete. Das Motelzimmer mit seinem schmutzigen orangefarbenen Teppich und den abscheulichen Seefahrtsgemälden strahlte wenig Behaglichkeit aus. Groves Herzschlag dröhnte in seinen Ohren, seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe.
Die Bilder und Gefühle in seinem Kopf wiederholten sich: der Traum, die Mühsal, einen Berg im Schnee hinaufzuklettern, der goldfarbene Punkt im Nacken, Maura Countys blaue Augen, der Tag, an dem er von Hannahs Krebs erfahren hatte, der von Entsetzen verzerrte Gesichtsausdruck des Eismannes, der sanfte Schwung von Maura Countys Hüften und eine bruchstückhafte Erinnerung daran, wie er das letzte Mal masturbiert hatte. Gegen vier Uhr morgens gab er den Versuch zu schlafen auf und kleidete sich an.
Während der nächsten Stunden – bis das Morgengrauen die dunklen Schatten beiseite schob und die ersten Strahlen des Morgenlichts durch die Jalousien schickte – saß Grove an dem Fensterplatz in der Lobby und studierte Berichte über die Mumie, sah Röntgenaufnahmen durch, die man von ihr gemacht hatte, und nahm sich noch einmal die Akten der Sun-City-Mordfälle vor. Er hatte das bohrende Gefühl, dass sich die entscheidenden Hinweise direkt vor seinen Augen befanden, versteckt zwischen den Zeilen, den Dokumenten; doch die Lösung des Rätsels blieb ihm verborgen. Es war wie ein Wort, das Grove auf der Zunge lag, ein Name oder ein Ort, die zum Greifen nahe, aber doch so fern waren.
Gegen sechs Uhr klingelte Groves Handy. Er nahm den Anruf entgegen und war nicht im Geringsten überrascht, Terry Zorns provokant schleppenden Tonfall am anderen Ende der Leitung zu hören.
«Ich hoffe, ich habe Sie nicht aus dem Schlaf gerissen», sagte die raue Stimme.
«Terry… nein… ich war schon auf.»
«Wie läuft es denn da oben im weißen Norden?»
«Es ist verdammt kalt hier.»
«Man hat mir gesagt, ihr habt da eine Mumie
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