Die Eismumie
einfach nicht aus dem Kopf wollte. In dem Traum war er der Eismann gewesen; er war das Menschenopfer – wehrlos einem grausamen, unerbittlichen Schicksal ausgeliefert. Schließlich drehte er sich zu Maura County herum, die noch immer am Fenster saß und auf eine Antwort wartete. Grove grinste: «Ich muss zugeben, die Idee ist interessant.»
Am selben Abend tausend Meilen weiter südlich. In der Moapa-River-Indianerreservation am äußeren Stadtrand von Las Vegas, nahe der Wüste, lag die Mason-Dixon-Raststätte für Fernfahrer im grellen Schein von hunderten Natriumdampflampen. Die Beleuchtung war so hell, dass im Umkreis von einer Viertelmeile in jede Richtung am weiten Nevadahimmel kein Stern zu erkennen war. Fliegen, so groß wie Walnüsse, umschwärmten die Lampen. Sie machten enervierende Geräusche, die selbst die laut wummernde Musik aus der Gaststätte nicht übertönen konnte. Zwanzig Tanksäulen – zwölf für Diesel, acht für Benzin – standen aufgereiht auf dem verlassenen Betonplatz. Ein einzelnes Fahrzeug fuhr an einer der Zapfsäulen vor, ein metallicgrüner Honda Odyssey. Die Fahrerin, Carolyn Kenly, dreiundvierzig Jahre alt und zweifache Mutter, stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen.
Sie ging rasch in Richtung des kleinen Einkaufsmarktes und des Restaurants. In ihrem ärmellosen Sommerkleid aus Jeansstoff bewegte sie sich mit jener nervösen Energie und Entschlossenheit, wie sie für eine Frau, die spätabends allein unterwegs ist, typisch sind. Sie hielt den Blick gerade nach vorne gerichtet, ihre Absätze klapperten auf dem Beton. Als sie das Gebäude erreicht hatte, öffnete sie die Eingangstür und ging hinein.
Der Mörder brauchte nur einen Augenblick. Aufrecht und völlig ungezwungen trat er aus dem dunklen Schatten des Müllcontainers und schritt gelassen über den hell erleuchteten Platz. Ein hoch gewachsener, drahtiger Mann, dessen langes, hageres Gesicht von Schmutzstreifen verschmiert war. Er näherte sich dem grünen Honda und blieb in Höhe des vorderen Kotflügels stehen. Mit einem kurzen Blick über die Schulter versicherte er sich, dass ihn niemand beobachtete. Seine Bewegungen waren präzise und geschmeidig, auch wenn er nur zerlumpte Kleider trug und nach Schweiß und eingetrocknetem Kot stank. Das, was ihn trieb, legte keinen Wert auf Hygiene. Dieses Es in ihm verfolgte einen höheren Zweck.
Er zog ein Klappmesser aus der Gesäßtasche seiner fleckigen und zerrissenen Khakihose. Er arbeitete flink. Nachdem er sich neben das linke Vorderrad gekniet hatte, öffnete er das Messer und rutschte unter das Chassis. Für sein Vorhaben würde er keine Minute benötigen, höchstens dreißig Sekunden. Der Mann fand das richtige Kabel und trennte es mit einem schnellen Schnitt durch. Dann verschwand er wieder hinter dem Müllcontainer, wo sein eigenes Fahrzeug, ein gestohlener Mercedes SL-500, mit laufendem Motor in der Dunkelheit stand. Er rutschte hinter das Lenkrad. Im Inneren des Autos stank es nach Urin, verdorbenen Lebensmitteln und kaltem Schweiß.
Carolyn Kenly kehrte zu ihrem Wagen zurück und startete den Motor. Der Honda fuhr vom Rastplatz und fädelte sich auf dem Highway 15 ein.
Der Mercedes rollte mit ausgeschalteten Scheinwerfern aus seinem Versteck und nahm die Verfolgung auf.
Im Schutz der schwarzen Wüstennacht ließ sich der Mann weit genug hinter den Wagen der Frau zurückfallen, um keinen Verdacht zu erregen. Carolyn Kenly fuhr schneller als erlaubt. Sie schien es eilig zu haben. Für eine gute halbe Stunde folgte der Mercedes dem Honda, dann brach ohne Vorwarnung das Heck des Honda aus; das durchtrennte Kabel zeigte Wirkung. Die Rücklichter flackerten auf, und der Wagen schlitterte über den Seitenstreifen des Highways hinaus.
Der Mann ging mit ungeheurer Präzision und Routine vor. Ungefähr eine halbe Meile hinter dem Honda lenkte er seinen Wagen auf die Standspur, parkte und stellte den Motor ab. Seine Werkzeuge befanden sich im Kofferraum. Er warf den Köcher über die Schulter, band sich den Werkzeuggürtel um die Taille und nahm den Bogen fest in die linke Hand. Dann machte er sich auf den Weg.
Die Wüste lag karg und grau in der Dunkelheit. Am Himmel leuchtete eine unendliche Zahl von Sternen, man hätte glauben können, man wandere über die dunkle Seite des Mondes.
Der Mann brauchte weniger als fünf Minuten, um den fahruntüchtigen Wagen und die verzweifelte Frau zu erreichen. Die Kühlerhaube des Honda stand offen. Carolyn Kenly
Weitere Kostenlose Bücher