Die Eismumie
der Abfertigungshalle herrschte der übliche Lärm und Trubel abreisender Fluggäste.
Zorn erwartete Ulysses bereits neben einer Telefonzelle, einen Kleidersack über der Schulter und den Cowboyhut tief ins Gesicht gezogen. Er telefonierte und machte sich Notizen. Seine Augen leuchteten auf, als er Grove näher kommen sah.
«Eine Sekunde, Tom, warten Sie mal», sagte er in den Hörer und streckte Grove die freie Hand entgegen. «Hier kommt er ja!»
«Hallo Terry», sagte Grove und schüttelte ihm die Hand. Zorns Griff war fest und trocken.
«Bin gleich bei Ihnen», sagte Zorn zu Grove, mit einem Finger gestikulierend. Dann sprach er wieder ins Telefon. «Ich verstehe ja, was Sie sagen wollen, Tom, aber machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden heute schneller vor Ort sein als beim letzten Mal.» Zorn lachte ungezwungen und so vertraulich, dass Grove sich abwandte. «Wir sind schon auf dem Flughafen. Wir müssen nur einen Pendelflug nach dort unten erwischen. In Ordnung? Hört sich gut an? Wir melden uns vom Tatort. Bis dann, Tom.»
Zorn beendete das Gespräch und wandte sich Grove zu. «Haben Sie Lust auf eine kleine Reise?»
«Wie bitte?»
«Das war eine Nachricht aus Quantico. Der Sun-City-Mörder hat wieder zugeschlagen.»
«Wo?»
«Ein paar Meilen außerhalb von Vegas. Kommen Sie.» Zorn versetzte Grove einen freundschaftlichen Schlag auf den Rücken und ging in Richtung der Abflughalle. Über die Schulter hinweg sagte er: «Wir müssen uns beeilen, wenn wir die nächste Maschine nicht verpassen wollen. Ich informiere Sie auf dem Weg über alle Einzelheiten.»
Grove seufzte, dann folgte er Zorn.
Kapitel 5
Viktimologie
Grove und Zorn nahmen im hinteren Teil der 767 von Alaska Airlines Platz. Die Maschine hob dröhnend ab und flog in einer Steilkurve in Richtung Süden. Das grelle Sonnenlicht strahlte durch die Flugzeugfenster. Schönwetterturbulenzen ließen die Servierwagen und die Metallschränke in der Bordküche scheppern. Grove hielt sich an seinen Unterlagen fest.
Zorn saß rechts von ihm und blätterte in seinem Notizbuch. «Die Zuständigkeit liegt beim Morddezernat von Vegas.»
Grove sah ihn an. «Wo genau wurde die Leiche gefunden?» Zorn blickte auf seine Notizen. «Unregistriertes Gebiet draußen in der Wüste.»
«Das klingt eher nach dem Sheriff der Staatspolizei.» Zorn nickte bestätigend. «Ja, aber das Police Department von Vegas lässt Fremde nicht gerne vor der eigenen Haustüre kehren.»
Eine Weile sagten beide nichts, dann fragte Grove, wer den Mord in der Wüste mit den Sun-City-Fällen in Verbindung gebracht habe.
«Ich schätze, der erste Mann am Tatort hat die Signatur erkannt», erwiderte Zorn, ohne den Blick von seinen Aufzeichnungen zu heben. «Ein Captain namens Hauser.»
«Sie haben gesagt, das Opfer sei weiblich?», versicherte sich Grove.
«Korrekt… zweifelsfrei identifiziert… dreiundvierzig-jährige weiße Frau, Name Carolyn Kenly, verheiratet, zwei Kinder, wohnhaft in Henderson, Nevada.»
«Gibt es irgendwelche Vermerke über sie?»
«Nichts, keine Vorstrafen, eine völlig unbescholtene Lady. Anscheinend hat der Kerl sein Opfer wieder zufällig ausgewählt.»
Das Gesicht der Mumie wollte Grove nicht aus dem Kopf gehen. Schließlich wandte er sich zu Zorn und sagte: «Die tödliche Verletzung liegt wieder im Halswirbelbereich?»
«Ja, in der Tat. Und wieder gibt es keine Spur von der Mordwaffe. Die Ballistiker sind ratlos. Der Leichenbeschauer befindet sich ebenfalls bereits vor Ort.»
«Todeszeitpunkt?»
«Lassen Sie mich mal sehen…», Zorn blätterte in seinen Unterlagen. «Irgendwann zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens.»
«Verletzung durch einen scharfen Gegenstand?»
«Genau.»
«Und die Lage der Leiche? Ich meine, hat der Mörder sie wieder in dieselbe Positur gebracht?»
«Bis jetzt habe ich noch keine Einzelheiten, aber… ja, es sieht so aus, als hätten wir es mit dem Sun-City-Täter zu tun.»
Grove schaute aus dem Fenster hinaus auf den Ozean aus Wolken, über den das Flugzeug dahinzog. Die Wolkendecke wurde regelmäßig von dunklen Bergen durchbrochen, die weit in den Himmel hinaufragten. Grove betrachtete die zerklüftete Landschaft und fragte sich, ob er nicht Maura County anrufen sollte, um ihr von seiner Reise zu berichten. Offiziell war er natürlich nicht verpflichtet, die Journalistin über jeden seiner Schritte zu informieren, aber Maura war in der kurzen Zeit, die sie sich kannten, zu einer Art Vertrauten
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