Die Eismumie
unterstehen. Ich schicke Sie zu seiner Unterstützung dort hinauf. Offiziell. Aber unter uns: Ich möchte, dass Sie diese Sache wieder unter Kontrolle bringen. Sorgen Sie dafür, dass Grove sein Augenmerk wieder auf Sun City richtet. Sie sollen da oben meine Augen und meine Ohren sein. Kann ich mich auf Sie verlassen?»
Zorn lächelte in sich hinein. «Natürlich, Tom.»
Ulysses Grove verbrachte den Rest des Tages damit, so viel wie irgend möglich über den Eismann in Erfahrung zu bringen. Er ging mit Okuda in die Bibliothek der archäologischen Fakultät und absolvierte einen Grundkursus in der Geschichte der frühen Kupferzeit. Dann schlich er wieder ins Schliemann-Laboratorium und warf einen erneuten Blick auf die Mumie – wenn auch nur durch hermetisch abgedichtete Glasscheiben. Er machte Digitalaufnahmen des Körpers und ertappte sich dabei, wie er dem Eismann lange Zeit in das lederne Gesicht starrte; sein Ausdruck schlug Grove in seinen Bann. Vielleicht lag es an dem Albtraum, der ihn in der vorigen Nacht heimgesucht hatte, vielleicht aber auch an der Parallele zwischen den heutigen Opfern und der Mumie.
Er sprach mit Okuda darüber, und der junge Mann überlegte, ob der Ausdruck in dem Gesicht des Eismannes möglicherweise Aufschluss über die Art und Weise seines Sterbens geben könnte. Okuda glaubte, dass es sich bei dem Mann um ein Menschenopfer handelte. In der Kupferzeit hatte man Naturgötter, darunter auch Berggottheiten verehrt und fest daran geglaubt, diese mit Opfern günstig stimmen zu können. Die Menschen hatten ihre Götter für das Wetter, die Ernte oder gar die Geburtenrate verantwortlich gemacht. Die Computertomographien der Mumie und die dreidimensionalen Computerbilder der inneren Organe zeigten außerdem, dass Teile der Leber und das Herz post mortem entnommen worden waren, und zwar durch eine gezackte Öffnung unter den Rippen, eine Wunde, die man ursprünglich für die Folge eines Sturzes gehalten hatte. Okuda interpretierte diese Entdeckung als einen weiteren Hinweis darauf, dass es sich um eine Art ritueller Tötung gehandelt haben musste.
Nach einem kurzen Mittagessen in der Cafeteria des Labors – Grove hatte keinen großen Appetit und gab sich mit einem halben Bagel zufrieden – verbrachte er einige Stunden in Okudas engem Büro tief unten im Schliemann-Labor, wo er das umfangreiche Material zu den Tests durchforstete, die mit dem Eismann gemacht worden waren. Er studierte die endlosen Sequenzen mitochondrialer DNA, die man aus dem Knochenmark der Mumie gewonnen hatte. Er ging sämtliche Röntgenaufnahmen und Scans der Wunde durch, die vermutlich den Tod des Eismannes herbeigeführt hatte. Mit einem Ferngespräch nach Quantico veranlasste Grove, dass eine Sekretärin des FBI ihm eine Reihe pathologischer Berichte über die Sun-City-Opfer faxte. Er stellte visuelle Vergleiche zwischen dem Opfer aus der Kupferzeit und denen aus der Gegenwart zusammen. Die Wunden waren absolut identisch. Die einzige Abweichung waren die fehlenden Organe bei der Mumie. Die Sun-City-Opfer waren innerlich dagegen unversehrt, soweit Grove das aus den forensischen Ergebnissen schließen konnte.
Kein Detail war zu klein oder unbedeutend. So erfuhr er auch, dass der Eismann ein seltsames Objekt bei sich getragen hatte – einen kleinen, bemoosten Pilz, der an einem Lederband hing und der den Archäologen anfänglich einige Rätsel aufgegeben hatte. Der Pilz enthielt chemische Substanzen, deren antibiotische Wirkung heute bekannt war. Okuda vermutete daher, dass solche Pilze damals zur Ausrüstung eines Medizinmannes gehört hatten. Grove sah sich auch einige digitale Rekonstruktionen des Gesichts an, ebenso wie sorgfältig reparierte Grasfutterale und Kleidungsstücke, die der Mann getragen hatte. Als er das Beil des Eismannes aufhob, lag es ihm eigenartig gut in der Hand. Es war geschickt ausbalanciert und handwerklich perfekt. Im mystischen Sinne, erklärte Okuda, war jeder Hieb mit dem Beil eine sakrale Handlung. Einen Steinbock zu töten oder einen Sämling zu schlagen stand stets in Verbindung mit einem der Götter, dessen eigenes Beil geholfen hatte, die Welt zu segnen.
Grove wusste nicht mit Bestimmtheit, was er eigentlich suchte, aber er hatte das Gefühl, je mehr er über den Ursprung und die Lebensumstände der Mumie herausfand, desto besser würde er in der Lage sein, den Tod des Eismannes zu rekonstruieren und letztlich die möglichen Verbindungen zu den Sun-City-Morden aufzudecken.
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