Die Eismumie
Dienststellen verbreitet. E-Mails überfluteten die Computerterminals der Außenbüros des FBI. Nachrichten höchster Dringlichkeitsstufe wurden per Telefon verbreitet, und Eilmeldungen krächzten über die Funkverbindungen der Streifenwagen. Fast in der gleichen Sekunde erhielten sämtliche Sheriffs im Westen der Vereinigten Staaten ein Bild von Ackerman. Wichtige taktische Einheiten wurden per Memo unterrichtet. Die meisten Postämter in den größeren Städten hängten Steckbriefe von dem Täter aus. Sogar die Kopfgeldjäger bekamen Anrufe.
Bevor die Sonne an der Westküste aufging, war Richard Ackerman der meistgesuchte Mann in Amerika.
«Wenn Sie sich eine Sekunde gedulden möchten – bitte!»
Mit erhobenen Händen bedeutete Ulysses Grove den versammelten Wissenschaftlern, ihre drängenden Fragen für einen Moment zurückzustellen. Langsam ebbten nun auch in den hinteren Reihen die letzten geflüsterten Bemerkungen der über hundert Archäologen ab. Alle Blicke richteten sich in gespannter Erwartung auf den Profiler.
Grove stand auf einem kleinen Podium vor der Versammlung; er hatte sein Jackett abgelegt und die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt. Sein Aktenkoffer lag mit geöffnetem Deckel neben einer Schautafel, sodass der Inhalt für alle gut zu sehen war – ein BlackBerry Palm Pilot, Notizbücher, Handy, Kassettenrekorder, Gummihandschuhe, verschiedene Akten und eine Polaroidkamera. Wer genau hinsah, konnte sogar den Schlüsselanhänger erkennen, den Groves verstorbene Frau ihm vor Jahren als Glücksbringer zum Valentinstag geschenkt hatte – eine winzige Lupe an einer fünf Zentimeter langen Spindel. Der Anhänger steckte in einem abgenutzten Lederbeutel, auf dem in altenglischen Schriftzeichen das Wort Sherlock gedruckt stand. Obwohl Grove nicht abergläubisch war, trug er den Talisman immer bei sich. Er fühlte sich einfach wohler, wenn er in seinem Aktenkoffer lag.
Draußen dämmerte bereits der Morgen, und Grove fühlte sich zittrig und ausgelaugt – kaum verwunderlich nach einer durchwachten Nacht voller Arbeit und viel zu viel Kaffee. Maura County saß hinter ihm auf einem Hocker neben der Schautafel. Ihr schwarzer Rollkragenpullover war voller Kreidestaub. Während der vergangenen Stunde hatte sie Notizen gemacht, versucht, alles zu verfolgen und die vielen Daten zu verstehen, die die Archäologen zusammentrugen. Keine einfache Aufgabe, denn in diesem Saal prallten nicht nur die Kulturen, sondern auch die Egos der Wissenschaftler aufeinander. Auf der Tafel hatte Maura in hastiger Schrift die übereinstimmenden Todesursachen der Mumien festgehalten:
- tödliche Wunde nahe 1. Halswirbel
- unbestimmbare, aber identische Pose
- Rückenlage
- fehlende Organe
Mit verschränkten Armen stand Terry Zorn an die Eingangstür gelehnt und kaute nervös auf der Unterlippe. Den Cowboyhut hatte er über den Türknauf gehängt. Terry war gegen zwei Uhr in der Nacht zu diesem Hornissennest gestoßen. Gegen vier Uhr in der Frühe hatte der Hotelservice eine weitere riesige Silberkanne mit Kaffee gebracht, der für die Anwesenden eine Art Lebenselixier zu sein schien. In Wahrheit aber brauchte niemand diese Koffeinzufuhr, um wach zu blieben. Allein die Tatsache, dass sie bei ihren Forschungen unwissentlich ähnliche Funde gemacht hatten, genügte, um die Aufmerksamkeit und das Engagement aller Beteiligten auf höchstem Niveau zu halten.
Unter den Anwesenden befand sich an diesem Morgen auch Lady Edith Endecott, eine alte Schottin mit grauvioletten Haaren, die in einem Sumpf bei Edinburgh eine vollständig erhaltene Mumie aus dem 15. Jahrhundert gefunden hatte. Die Leiche war mit dem Eismann in ihren Merkmalen nahezu identisch – dieselbe Signatur, dieselbe Wunde im Nacken, dieselbe Pose. Ebenfalls zugegen war der großspurige Dr. Moses De Lourde, ein unkonventioneller und anachronistischer alter Südstaatler aus Vanderbilt, der die Ausgrabung eines zweitausend Jahre alten Mordopfers aus einem Erdhügel bei Poverty Point in Louisiana geleitet hatte. Außerdem war der elegante indische Gentleman V. J. Armatraj anwesend, der das Team angeführt hatte und von dem die «Mumie des Jahres Null» hoch in den italienischen Alpen entdeckt worden war, ein gefrorenes Exemplar aus der Zeit Christi, das Anzeichen einer tödlichen Wunde im Nacken aufwies. Im Mittelpunkt des Trubels stand Professor Akmin Narazi, einer der prominentesten arabischen Intellektuellen, der eine Unmenge von Daten zu Mumienrunden aus
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