Die Eismumie
fragte er schließlich.
«Entschuldigen Sie die Geheimniskrämerei», sagte sie mit einem dünnen Lächeln. «Ich schätze, das ist die Journalistin in mir.»
«Was meinen Sie damit?»
«Die Furcht, eine Aufmacherstory in den Sand zu setzen, begleitet uns ständig.»
Der Fahrstuhl hielt stotternd an. Die Türen öffneten sich und gaben den Blick auf weitläufige Flure mit steinernen Übertöpfen, goldenen Wandleuchtern und Spiegelpaneelen frei. Grove folgte Maura einen mit weichem Teppich ausgelegten Korridor entlang, an dessen beiden Seiten Konferenzräume lagen, die alle mit einem Namensschild versehen waren: Muir Room, Juniper Room, Larkspur Room und Madera Room. Sie lagen alle leer und verlassen da. Außer Grove und Maura schien sich kein Mensch auf der Etage aufzuhalten.
«Und was ist in diesem Fall die Aufmacherstory?», fragte Grove, während sie zügig weitergingen.
Sie dachte kurz über seine Frage nach. «Nun, ich bin mir ehrlich gesagt selber nicht ganz sicher. Ich dachte, Sie könnten es vielleicht für mich herausfinden.»
«Ich nehme an, es geht um die Reaktionen auf die E-Mails?»
«Richtig.»
«Es gibt in der Geschichte Beweise für ähnliche Todesfälle? Mumien mit ähnlichen pathologischen Befunden?»
Maura nickte. «So könnte man sagen. Ja. Sie müssen es einfach mit eigenen Augen sehen.»
«Also dann…», sagte Grove ungeduldig.
«Gleich da hinten.» Maura deutete auf die linke Tür am Ende des Flurs.
Grove folgte ihr. Er stellte sich auf eine weitere Begegnung mit einer stocksteifen Archäologin wie Lorraine Mathis ein oder vielleicht auch mit einem Dutzend verknöcherter, alter Professoren, die um einen Tisch herumsaßen und Vorträge über Tontöpfe und Pfeilspitzen hielten.
Sie blieben vor der Tür stehen, auf der in goldenen Buchstaben REDWOOD ROOM stand. Maura legte die Hand auf den Türknauf und verharrte. Grove stand wartend hinter ihr und wurde ihrer Dramaturgie allmählich überdrüssig. Schließlich blickte Maura ihn über die Schulter hinweg an. «Sind Sie bereit?»
«Seit meiner Geburt.»
Maura öffnete die Tür und führte ihn in den Raum.
Grove tauchte in ein Chaos ein. Ohrenbetäubender Lärm schlug ihnen entgegen. Mindestens hundert Archäologen, wenn nicht sogar mehr, verteilten sich in einem geordneten Durcheinander in dem Bankettsaal. Sie diskutierten, gestikulierten und redeten miteinander. Die Decke des Saals war mindestens acht Meter hoch, und Dutzende von Kronleuchtern strahlten auf die Menschen hinunter. Jede erdenkliche Nationalität schien vertreten zu sein – Araber, Hindus, Männer mit Turbanen, Asiaten, afrikanische Gelehrte in Dashikis und mit ihrem traditionellen Kopfschmuck und sogar eine muslimische Frau in einer schwarzen Bhurka, die ihr Gesicht verhüllte. Grove wich erstaunt zurück und ließ den Blick über die ganze Länge des Saals schweifen. Erst langsam erkannte er, worum es sich hier handelte.
Etliche Flip-Charts und Schreibtafeln standen an den Tischen und zeigten hastig skizzierte Strichmännchen oder Fotos von Opfern, Mumien und versteinerten, menschlichen Skeletten, die fast alle auf dem Rücken lagen. Dicke Pfeile zeigten auf Wunden im Nacken der Opfer. Dazu waren Vektordiagramme von Eintrittswunden zu sehen. Auf einem der Bilder erhob ein kleines Strichmännchen die Arme zu einem flehentlichen Gebet. Genau wie die Sun-City-Opfer. Einige der Diskussionsteilnehmer standen an den Schautafeln und wiesen ihre Kollegen auf bestimmte Merkmale hin. Das tiefe Brummen des Stimmengewirrs erfüllte den Raum. Die Leute gestikulierten mit den Händen, hier und dort wurden kritisch die Köpfe geschüttelt. Grove stand eine Zeitlang nur da, nahm alles in sich auf und wurde von den meisten Anwesenden gar nicht wahrgenommen.
«O mein Gott», murmelte er schließlich. Ein kalter Schauer überlief ihn.
Maura sah ihn an und nickte ganz langsam. «Genau.»
Teil 3
Carrigans Zyklus
Das Böse lässt sich nicht erklären.
Man muss in ihm einen notwendigen Bestandteil
der Ordnung des Universums sehen.
W. SOMERSET MAUGHAM
Kapitel 11
Die Büchse der Pandora
Während Grove und Maura in dem Bankettsaal an der Westküste noch bis spät in die Nacht hinein mit den Archäologen debattierten, unterzog man am Rande einer Marinebasis in Virginia derweil in einem FBI-Laboratorium das genetische Material, das an den Tatorten und im Haus der Ackermans sichergestellt worden war, ausgiebigen Tests. Man
Weitere Kostenlose Bücher