Die Eismumie
stammelte Grove, der nicht recht wusste, was er sagen sollte. Hinter ihm drängelten sich die anderen jetzt in der Türöffnung und hörten zu.
«Ich bin kein Archäologe», sagte der Priester. Er sprach mit dem sanften rollenden R der Menschen aus Boston. Er blinzelte stark, und sein verschrumpeltes Gesicht zuckte, was vielleicht auf einen Schlaganfall zurückzuführen war. «Ein Brasilianer von der Universität in Sao Paulo hat mir von dem Treffen hier erzählt.»
«Wir sind sehr erfreut, Sie bei uns zu haben», versicherte Grove, der sich fragte, was wohl dahinterstecken mochte, wenn ein alter, arthritischer Priester eine so weite Reise unternahm.
«Dieses Muster, das hier diskutiert worden ist… von dem weiß ich schon seit geraumer Zeit.»
«Tatsächlich? Sind Sie Amateurkriminologe, Father?»
«Um den Dichter zu paraphrasieren – es gibt weit mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Sie sich je haben träumen lassen, Agent Grove.»
Grove schmunzelte. «Ich habe schon die wildesten Träume gehabt.»
Das Gesicht des Priesters verfinsterte sich. Seinen milchigen Augen, die zwischen tiefen Falten begraben lagen, waren Ernst und Besorgnis abzulesen, und sein Kehllappen zitterte, als er versuchte, in Worte zu fassen, was er mitteilen wollte. «Sie öffnen die sprichwörtliche Büchse der Pandora, Agent Grove, und ich bin nicht sicher, ob sie auf das vorbereitet sind, was aus ihr hervorkriechen wird.»
Grove starrte den alten Mann an.
«Hören Sie… Father Carrigan… warum frühstücken Sie nicht mit uns? Natürlich auf Kosten der Zeitschrift, und währenddessen können Sie uns erzählen, was Sie beschäftigt.»
Der Priester schürzte die Lippen. Eine Aura fast aristokratischer Würde umgab den alten Mann, wie er dastand, auf seinen glatt polierten Gehstock mit Perlmuttgriff gestützt. An einem gekrümmten Finger trug er einen angelaufenen alten Siegelring, der mit den Symbolen irgendeines obskuren Geheimbundes verziert war. Schließlich nickte er und sagte: «Das wäre äußerst liebenswürdig, danke.»
Ein zufälliger Beobachter – wenn es denn noch einen lebenden gäbe – würde die ersten Sonnenstrahlen bemerken, die durch die geschlossenen Rollläden am vorderen Fenster der Lobby des Regal Motel fielen, und sich vielleicht fragen, warum sie überhaupt heruntergelassen waren (dazu noch versehen mit einem GESCHLOSSEN-Schild), wo doch die Schonzeit für Enten seit einer Woche vorüber war und die meisten Jäger die frühen Morgenstunden bevorzugten. Er würde auch die dunkelroten Schleifspuren auf dem Teppich sehen, die quer durch die Rezeption und um die Ecke des Tresens führten, und nähme den metallischen Geruch von trockenem Blut und verwesendem Fleisch wahr, der sich allmählich in der abgestandenen Luft ausbreitete. Auf jeden Fall würde ihm die hochgewachsene knorrige Gestalt auffallen, die hinter dem Tresen stand, so bewegungslos wie ein geschnitzter Holzindianer vor einem Billigladen.
Seit fast einer Stunde hatte er jetzt dagestanden, losgelöst von den Schmerzen, die sich in seinen Rücken gekrallt hatten, und den Blick wie in Trance nach vorn gerichtet, als wäre er ein Androide und wartete am Empfang auf einen Gast, der niemals kommen würde. Der alte Richard Ackerman wäre niemals imstande gewesen, eine Stunde lang bewegungslos dazustehen. Er wäre spätestens nach zehn Minuten zusammengeklappt, hätte sich in wilden Krämpfen auf dem Boden gewälzt und seine Frau jämmerlich angefleht, ihm seine Medikamente zu geben. Aber dies war der neue Richard Ackerman, und er musste seinen Körper an die Grenzen treiben, denn die Offenbarung hatte sich endlich eingestellt.
Staubflocken tanzten leise in der Luft. Bis auf das schwache Geräusch von fallenden Tropfen war es vollkommen ruhig in der Lobby. Und der neue Richard dachte nach.
Im pazifischen Nordwesten gibt es einen Falken, der unter dem Namen Peregrin oder Wanderfalke bekannt ist. Dieser robuste Raubvogel hat eine Flügelspannweite von einem Meter fünfzig, Krallen wie Klauenhämmer und einen unersättlichen Appetit auf Mäuse, kleinere Vögel und auch Schlangen und Eidechsen. Ornithologen haben sogar beobachtet, dass der Peregrin seine eigenen Artgenossen angreift. Und nicht etwa, weil er auf Nahrungssuche ist. Offenbar zählt der Vogel zu den wenigen heutzutage lebenden Arten, die nur zum Vergnügen jagen und töten.
Vor über sechstausend Jahren, in der frühen Kupferzeit, gab es eine Urspezies des Peregrins – schon
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