Die Eisprinzessin schläft
anfing, sich zurückzuziehen, um mit dem Umzug schließlich völlig zu verschwinden, war es Erica, als würde die Welt untergehen. Alex war die einzige, die sie gehabt hatte, die ganz ihr gehört hatte und die sich - der Vater ausgenommen - wirklich etwas aus ihr gemacht hatte.
Erica stellte das Rotweinglas so entschieden auf den Tisch, daß der Fuß des Glases beinahe abgebrochen wäre. Sie fühlte sich viel zu rastlos, um hier still sitzen zu können. Sie mußte etwas tun. Es nützte nichts, sich vorzumachen, daß sie von Alex’ Tod nicht tief berührt worden sei. Am meisten hatte es sie bestürzt, daß das Bild von Alex, das ihr von Familie und Freunden vermittelt worden war, so schlecht mit jener Alex übereinstimmte, die sie selbst gekannt hatte. Selbst wenn Menschen sich auf dem Weg von der Kindheit ins Erwachsenenleben verändern, gibt es doch einen Kern ihrer Persönlichkeit, der normalerweise intakt bleibt. Jene Alex, die man ihr beschrieben hatte, war eine vollkommen Fremde.
Sie stand auf und zog erneut den Mantel an. Die Autoschlüssel lagen noch darin, und im letzten Moment griff sie nach einer Taschenlampe und steckte sie ein.
Das Haus auf der Kuppe des Hangs sah im violetten Licht der Straßenlampe verlassen aus. Erica stellte das Auto auf dem Parkplatz hinter der Schule ab. Sie wollte nicht, daß jemand sah, wie sie ins Haus ging.
Die Büsche auf dem Grundstück boten ihr vollkommenen Schutz, als sie vorsichtig zur Veranda schlich. Sie hoffte, daß noch immer alte Gewohnheiten galten, und hob den Fußabtreter hoch. Dort lag der Ersatzschlüssel fürs Haus, versteckt genau an derselben Stelle wie vor fünfundzwanzig Jahren. Die Tür quietschte leise, als sie aufgeschoben wurde, aber Erica hoffte, daß keiner der Nachbarn das Geräusch hörte.
Es war beängstigend, das dunkle Haus zu betreten. Die Furcht vor der Dunkelheit raubte ihr fast den Atem, und sie zwang sich, ein paarmal tief Luft zu holen, damit die Nerven nicht mit ihr durchgingen. Dankbar erinnerte sie sich an das Lämpchen in der Manteltasche und betete im stillen, daß die Batterien noch funktionierten. Sie taten es. Das Licht der Lampe beruhigte sie etwas.
Sie ließ den Strahl durch das Wohnzimmer im Erdgeschoß streichen. Was sie hier im Haus eigentlich suchte, wußte sie selbst nicht. Hoffentlich entdeckte kein Nachbar oder jemand, der am Haus vorbeikam, den Lichtschein und rief die Polizei.
Das Zimmer war schön und luftig, aber Erica stellte fest, daß die Siebziger-Jahre-Einrichtung in Braun und Orange, die sie aus der Kindheit in Erinnerung hatte, von hellem nordischen Design, also Birkenmöbeln mit klaren Linien, ersetzt worden war. Sie begriff, daß Alex dem Haus ihren Stempel aufgedrückt hatte. Alles war perfekt geordnet und wirkte irgendwie trostlos. Es gab keine Falte auf dem Sofa, und auf dem Tisch lag nicht mal eine Zeitung herum. Sie konnte nichts entdecken, was sich gelohnt hätte näher anzuschauen.
Sie erinnerte sich, daß die Küche hinterm Wohnzimmer lag. Sie war groß und geräumig, und die Ordnung wurde nur durch eine einsame Kaffeetasse im Spülbecken gestört. Erica ging durchs Wohnzimmer zurück und stieg die Treppe zum Obergeschoß hoch. Sie bog sofort nach rechts ab und betrat das große Schlafzimmer. In Ericas Erinnerung war es das Schlafzimmer von Alex’ Eltern, doch jetzt schliefen dort offenbar die neuen Besitzer. Auch dieser Raum war geschmackvoll eingerichtet, aber er wirkte exotischer mit den Stoffen in Schokoladenbraun und Anilinrot und den afrikanischen Holzmasken an den Wänden. Auch dieses Zimmer war geräumig und hatte eine hohe Decke, was unter anderem einem riesigen Kronleuchter zu seinem Recht verhalf. Alexandra hatte offensichtlich der Versuchung widerstanden, ihr Haus von oben bis unten mit maritimen Details auszustatten, was in den Villen der Sommergäste sonst die Regel war. Alles, von Gardinen mit Muschelmustern bis zu Bildern mit Schifferknoten, ging in den kleinen Sommerläden von Fjällbacka weg wie warme Semmeln.
Im Unterschied zu den anderen Räumen, in die Erica einen Blick geworfen hatte, wirkte das Schlafzimmer bewohnt. Kleine persönliche Dinge lagen überall verstreut. Auf dem Nachttisch befand sich ein Band mit Gedichten von Gustaf Fröding und daneben eine Brille. Ein Paar Strümpfe hatte man auf den Boden fallen lassen und einige Pullover auf der Tagesdecke ausgebreitet. Zum erstenmal spürte Erica, daß Alex wirklich in diesem Haus gewohnt hatte.
Vorsichtig begann sie
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