Die Eisprinzessin schläft
Erica fragte sich, warum ein so schönes Bild ganz nach hinten in einen Schrank gestellt worden war. Nach dem Gemälde zu urteilen, hatte Alexandra absolut keinen Grund gehabt, sich zu schämen, weil sie sich dem Betrachter in diesem Zustand zeigte. Sie war genauso vollendet wie das Gemälde. Erica konnte das Gefühl nicht loswerden, daß ihr etwas an dem Bild bekannt vorkam. Irgend etwas war daran, was sie früher schon gesehen hatte. Sie wußte, daß sie dieses Gemälde noch nie betrachtet hatte, also mußte es einen anderen Grund haben. Auf dem Platz in der unteren rechten Ecke fehlte jede Signatur, und als sie das Bild umdrehte, stand da nur »1999«, wohl das Jahr der Entstehung. Vorsichtig stellte sie die Leinwand an ihren Platz zurück und schob die Tür zu.
Sie ließ den Blick ein letztes Mal durchs Zimmer streifen. Irgend etwas war da, was sie nicht genau benennen konnte. Es fehlte etwas, aber ihr fiel beim besten Willen nicht ein, was es sein könnte. Nun ja, vielleicht kam sie später darauf. Jetzt wagte sie nicht, noch länger im Haus zu bleiben. Den Schlüssel legte sie dorthin zurück, wo sie ihn gefunden hatte. Sie fühlte sich nicht sicher, bevor sie wieder im Auto saß und der Motor lief. Jetzt hatte sie für diesen Abend genug an Spannung. Ein ordentliches Glas Kognak würde die Lebensgeister beruhigen und einen Teil der Unruhe vertreiben. Warum, um Himmels willen, war sie eigentlich auf die Idee gekommen, hierherzufahren und im Haus herumzuschnüffeln? Sie hatte nicht übel Lust, sich wegen soviel Dummheit an den Kopf zu schlagen.
Als sie daheim in die Garagenauffahrt einbog, sah sie, daß es kaum eine Stunde her war, daß sie sich auf den Weg gemacht hatte. Das erstaunte sie. Ihr war es wie eine Ewigkeit vorgekommen.
Stockholm zeigte sich von seiner besten Seite. Trotzdem hatte sie das Gefühl, von Schwermut befallen zu sein. Normalerweise hätte sie sich, wenn sie über die Västerbron fuhr, an der Sonne erfreut, die glitzernd auf dem Riddarfjärden lag. Heute aber war es anders. Die Zusammenkunft sollte um zwei Uhr stattfinden, und sie hatte den ganzen Weg von Fjällbacka gegrübelt und vergeblich versucht, eine Lösung zu finden. Marianne hatte ihr die juristische Situation leider nur zu deutlich gemacht. Falls Anna und Lucas weiter auf dem Verkauf bestanden, wäre Erica gezwungen, sich darauf einzulassen. Ihre einzige Alternative war, ihnen die Hälfte des Marktwertes, die das Haus besaß, auszuzahlen, und bei den Preisen, die Häuser in Fjällbacka erzielten, könnte sie nicht einmal den Bruchteil der Summe aufbringen. Zwar würde sie bei einem Verkauf des Hauses nicht leer ausgehen. Ihre Hälfte brächte vielleicht ein paar Millionen Kronen ein, aber das Geld war ihr egal. Kein Geld der Welt konnte den Verlust des Hauses ersetzen. Die Vorstellung bereitete ihr Übelkeit, daß irgendein Stockholmer, der glaubte, die neu erworbene Seglermütze mache ihn zum Küstenbewohner, die schöne Veranda an der Seeseite des Hauses abreißen könnte, um ein Panoramafenster einzusetzen. Und niemand sollte kommen und sagen, sie würde übertreiben. Sie hatte gesehen, daß genau das immer wieder geschah.
Sie parkte vor dem Büro des Anwalts auf der Runebergsgatan in Östermalm. Die Fassade war imposant, lauter Marmor und Säulen, und im Spiegel des Fahrstuhls kontrollierte sie ihr Aussehen ein letztes Mal. Die Kleidung war sorgfältig gewählt, damit sie in dieses Umfeld paßte. Es war das erste Mal, daß sie hierherkam, aber sie hatte mit Leichtigkeit erraten, mit welcher Art von Anwälten sich Lucas umgab. Um höflich zu wirken, hatte Lucas darauf hingewiesen, daß sie selbstverständlich einen eigenen Anwalt mitbringen könnte. Erica hatte es vorgezogen, allein zu erscheinen. Sie konnte sich ganz einfach keinen Anwalt leisten.
Eigentlich hatte sie Anna und die Kinder ein Stündchen vor dem Treffen sehen wollen. Um vielleicht eine Tasse Kaffee bei ihnen zu trinken. Trotz ihrer Verbitterung über Annas Auftreten war Erica fest entschlossen, alles zu tun, um die Beziehung zwischen ihnen zu erhalten.
Anna schien nicht derselben Meinung zu sein und hatte vorgegeben, die Sache würde zu stressig werden. Es wäre besser, sich beim Anwalt zu treffen. Bevor Erica vorschlagen konnte, sich dann hinterher zu sehen, kam ihr Anna zuvor und sagte, danach müsse sie zu einer Verabredung mit einer Freundin. Kein Zufall, vermutete Erica. Es war offensichtlich, daß Anna ihr ausweichen wollte. Die Frage war nur,
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