Die Eisprinzessin schläft
poliert. Zwar hatte er selber, wenn er besonders wütend darüber war, daß sie sich verdrückt hatte, sie auch mit allen möglichen Ausdrücken beschimpft, aber das ließ sich nicht vergleichen. Die anderen kannten sie nicht. Nur er hatte das Recht zu verurteilen.
Das Telefon ließ ein schrilles Klingeln hören. Er versuchte das Geräusch zu ignorieren, kam dann aber zu dem Schluß, daß es weniger qualvoll war, sich aufzurappeln und den Hörer abzunehmen, als wenn sich der Ton noch tiefer in sein Gehirn schnitt.
»Ja, hier ist Anders.« Er lallte gehörig.
»Hallo, ich bin’s, Mama. Wie geht’s dir?«
»Ach, einfach Scheiße.« Er ließ sich in sitzende Stellung rutschen, stützte den Rücken gegen die Wand. »Hä, wie spät ist es eigentlich?«
»Es ist fast vier Uhr nachmittags. Habe ich dich geweckt?«
»Nee.« Der Kopf erschien ihm unmäßig groß, er drohte die ganze Zeit zwischen die Knie zu fallen.
»Ich war vorhin einkaufen. Es wurde eine ganze Menge geredet über eine Sache, die du meiner Meinung nach wissen solltest. Hörst du zu?«
»Ja doch, tue ich.«
»Anscheinend hat Alex sich nicht das Leben genommen. Sie wurde ermordet. Ich wollte nur, daß du das weißt.«
Schweigen.
»Anders, hallo? Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
»Ja, klar. Was hast du gesagt? Ist Alex … ermordet worden?«
»Ja, das sagt man jedenfalls unten im Dorf. Offenbar ist Birgit heute auf dem Polizeirevier in Tanumshede gewesen, wo sie den Bescheid erhalten hat.«
»O verdammt. Du, Mutter, ich hab ‘n bißchen was zu erledigen. Wir sprechen uns später.«
»Anders? Anders?«
Er hatte schon aufgelegt.
Unter gewaltiger Anstrengung nahm er eine Dusche und zog sich an. Nach zwei Panodil-Tabletten fühlte er sich wieder mehr als Mensch. Die Wodkaflasche in der Küche schaute ihn verführerisch an, aber er weigerte sich, der Lockung nachzugeben. Jetzt war es erforderlich, nüchtern zu bleiben. Nun ja, wenigstens relativ.
Das Telefon klingelte erneut. Er ignorierte es. Holte statt dessen ein Telefonbuch aus dem Flurschrank und fand schnell die Nummer, die er brauchte. Als er sie wählte, zitterten ihm die Hände. Unendlich lang ertönte das Freizeichen.
»Hallo, hier ist Anders«, sagte er, als der Hörer endlich abgenommen wurde. »Nein, verdammt, leg nicht auf. Wir müssen uns ein bißchen unterhalten. Also du hast nicht gerade ‘ne andere Wahl, will ich dir nur sagen. Ich komme in ’ner Viertelstunde bei dir vorbei. Und da wirst du, verdammt noch mal, zu Hause sein. Es ist mir scheißegal, wer sonst noch da ist, begreifst du das nicht? Vergiß nicht, wer hier am meisten zu verlieren hat.
Du, laß das Gequatsche. Ich gehe jetzt los. Also in ‘ner Viertelstunde.«
Anders warf den Hörer auf. Nachdem er mehrmals tief Luft geholt hatte, zog er sich die Jacke an und ging nach draußen. Er kümmerte sich nicht ums Abschließen. Aus der Wohnung hörte man erneut wütendes Geklingel.
Erica war erschöpft, als sie wieder zu Hause ankam. Die Heimfahrt war unter angespanntem Schweigen erfolgt, und Erica verstand, daß Henrik eine schwere Entscheidung vor sich hatte. Sollte er Birgit erzählen, daß er nicht der Vater des Kindes war, oder sollte er es nicht zugeben und darauf hoffen, daß es bei den Ermittlungen nicht ans Tageslicht kam? Erica beneidete ihn nicht und wußte auch nicht zu sagen, wie sie in dieser Situation reagiert hätte. Die Wahrheit war nicht immer der beste Ausweg.
Die Dämmerung hatte sich bereits herabgesenkt, und sie war dankbar, daß ihr Vater für Lampen an der Außenwand gesorgt hatte, die sich automatisch einschalteten, wenn jemand auf das Haus zukam. Sie hatte sich im Dunkeln immer schrecklich gefürchtet. Als Kind hatte sie geglaubt, daß sich das später geben würde, denn Erwachsene konnten im Finstern doch wohl keine Angst haben. Jetzt war sie fünfunddreißig und schaute noch immer unters Bett, um sicherzugehen, daß da unten nicht irgendwas lauerte. Lächerlich.
Nachdem sie überall im Haus Licht gemacht hatte, goß sie sich ein großes Glas Rotwein ein und hockte sich mit untergeschlagenen Beinen aufs Korbsofa in der Veranda. Die Dunkelheit war kompakt, aber sie starrte nur blind vor sich hin. Sie fühlte sich einsam. Es gab so viele Menschen, die um Alex trauerten, die von ihrem Tod betroffen waren. Sie selbst hatte jetzt nur noch Anna. Manchmal fragte sie sich, ob die sie überhaupt vermissen würde.
Alex und sie waren sich als Kinder so nahe gewesen. Als Alex dann
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