Die Eisprinzessin schläft
Protestes deutlich ab, aber wenn sie sich dennoch zum Mitgehen überreden ließ, waren die Märchen von Geschichten mit weitaus romantischerem Inhalt abgelöst worden. Die Ironie war, daß sie ihre Berufswahl also wohl den erzwungenen Kirchenbesuchen zu verdanken hatte, oder sollte sie sagen, daß sie schuld daran waren?
Erica hatte ihren Glauben auch jetzt noch nicht finden können, und für sie war eine Kirche ein schönes, traditionsreiches Gebäude, mehr nicht. Die Predigten der Kindheit hatten in ihr nicht den Wunsch geweckt, gläubig zu werden. Sie hatten oft von Hölle und Sünde gehandelt und den frohen Gottesglauben vermissen lassen, von dem sie wußte, daß es ihn gab, mit dem sie selbst aber nie in Berührung gekommen war. Vieles hatte sich seither verändert. Jetzt stand eine Frau vor dem Altar, bekleidet mit dem Talar, und statt von der ewigen Verdammnis sprach sie von Licht, Hoffnung und Liebe. Erica wünschte, sie hätte während ihres Heranwachsens ein solches Gottesbild vermittelt bekommen.
Von ihrem versteckten Platz auf der Empore sah sie neben Birgit in der ersten Bankreihe eine junge Frau sitzen. Birgit hielt krampfhaft die Hand dieser Frau und lehnte zuweilen ihren Kopf an deren Schulter. Die Frau erschien Erica irgendwie bekannt, und dann fiel ihr ein, daß es Julia, die kleine Schwester von Alex, sein mußte. Erica saß zu weit entfernt, als daß sie deren Gesichtszüge hätte erkennen können, aber sie bemerkte, daß Julia vor Birgits Berührung zurückzuschrecken schien. Jedesmal wenn Birgit Julias Hand ergriff, zog die sie wieder an sich, aber entweder tat ihre Mutter so, als bemerke sie es nicht, oder ihr fiel es in dem Zustand, in dem sie sich befand, tatsächlich nicht auf.
Die Sonnenstrahlen drangen durch die hohen, bleigefaßten Fenster mit den bunten Scheiben. Die Bänke waren hart und unbequem, und Erica spürte in ihrem Kreuz allmählich ein schmerzhaftes Ziehen. Sie war dankbar, daß die Zeremonie nicht sonderlich viel Zeit beanspruchte. Nach Beendigung derselben blieb sie noch sitzen und blickte von oben auf die Menschen hinunter, die langsam die Kirche verließen.
Die Sonne schien geradezu unerträglich stark vom wolkenlosen Himmel. Eine Prozession von Menschen bewegte sich den sanft abfallenden Hang zum Friedhof und dem neuen Grab hinunter, in das man Alex’ Sarg sogleich hinablassen würde.
Unterwegs zu dem Ort, den man dafür ausgewählt hatte, kam Erica am Stein ihrer Eltern vorbei. Sie ging als letzte des Zuges und hielt einen Augenblick inne. Eine dicke Schneeschicht lag oben auf der Kante des Steins, und sie wischte sie sorgfältig herunter. Mit einem letzten Blick auf das Grab eilte sie der kleinen Gruppe hinterher, die sich ein Stück entfernt versammelt hatte. Die Neugierigen waren zumindest der eigentlichen Beisetzung ferngeblieben, und so gab es hier nur Familie und Freunde. Erica war sich nicht sicher gewesen, ob sie mitgehen sollte. Im letzten Moment hatte sie jedoch beschlossen, Alex auf dem Weg zu ihrer letzten Ruhe zu begleiten.
Henrik stand ganz vorn und hatte die Hände tief in den Taschen vergraben. Er hielt den Kopf gesenkt. Seine Augen waren auf den Sarg gerichtet, den langsam Blumen bedeckten. Vor allem rote Rosen.
Erica fragte sich, ob Henrik diesen Kreis inspizierte und daran dachte, daß der Vater des Kindes vielleicht unter den hier Versammelten war.
Als der Sarg in die Erde gelassen wurde, hörte man von Birgit einen langgezogenen, traurigen Seufzer. Karl-Erik preßte die Lippen zusammen und gestattete sich keine Tränen. Er brauchte seine ganze Kraft, um Birgit aufrecht zu halten, sowohl physisch als auch psychisch. Julia stand ein wenig abseits. Henrik hatte recht gehabt mit seiner Beschreibung, nach der Julia das häßliche Entlein der Familie war. Im Unterschied zu ihrer großen Schwester hatte sie dunkle Haare, der kurze, borstige Schnitt war alles andere als eine Frisur. Ihre Züge waren grob, und die tiefliegenden Augen blickten unter einem viel zu langen Pony hervor. Sie trug kein Make-up, und ihre Haut wies deutliche Spuren von heftiger Akne in den frühen Jugendjahren auf. Wenn sie neben Julia stand, sah Birgit noch kleiner und zerbrechlicher aus als sonst. Ihre jüngste Tochter war einen halben Kopf größer als sie, und deren schwerer, breiter Körper war ohne rechte Form. Fasziniert beobachtete Erica die widersprüchlichen Gefühle, die wie Wirbelstürme über Julias Gesicht jagten. Schmerz und Wut lösten einander blitzschnell
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