Die Eisprinzessin schläft
hat. Sonst hätten sich nur Fjällbackas Saufbrüder daran erfreuen können. Und es fällt mir schwer zu glauben, daß sie die feineren Aspekte der Kunst zu würdigen wissen.«
Ein Puzzlestück lag an seinem Platz, aber Erica konnte beim besten Willen nicht sehen, wie es in das übrige Muster passen sollte. Warum hatte Alex ein Nacktbild von sich selbst, gemalt von Anders Nilsson, in ihrem Schrank versteckt? Eine Erklärung wäre, daß es als Geschenk für Henrik, oder vielleicht für ihren Liebhaber, gedacht war und daß sie das Bild bei einem Künstler bestellt hatte, dessen Talent sie bewunderte. Irgendwie wirkte das nicht glaubhaft. Das Bild strahlte eine Sexualität und Sinnlichkeit aus, die gegen eine Beziehung zwischen Fremden sprach. Zwischen Alex und Anders gab es irgendeine sonderbare Verbindung. Andererseits war sich Erica bewußt, daß sie keine Kunstkennerin war, und ihre Fühler konnten ihr etwas völlig Falsches signalisiert haben.
Ein Gemurmel breitete sich im Raum aus. Es begann in der Gruppe, die dem Eingang am nächsten stand, und erfaßte dann die ganze Gesellschaft. Aller Augen richteten sich auf die Tür, wo ein höchst unerwarteter Gast Einzug hielt. Als Nelly Lorentz durch die Tür trat, verschlug es den Gästen vor lauter Verwunderung den Atem. Erica dachte an den Zeitungsartikel, den sie in Alex’ Schlafzimmer gefunden hatte, und fühlte, wie ihr all die scheinbar unzusammenhängenden Fakten durch den Kopf wirbelten, ohne eine Verbindung zueinander zu finden.
Seit Beginn der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hätte Fjällbacka ohne die Konservenfabrik Lorentz nicht überleben können. Fast die Hälfte der arbeitsfähigen Einwohner arbeiteten in der Fabrik, und in der kleinen Ortschaft glich die Familie Lorentz königlichen Hoheiten. Da Fjällbacka keinen fruchtbaren Boden für eine höhere Gesellschaft bot, war die Familie Lorentz eine Klasse für sich. Von ihrem erhöhten Platz, den die riesige Villa auf dem Kamm des Berges einnahm, schaute sie mit kühler Überheblichkeit auf Fjällbacka herab.
Die Fabrik war 1952 von Fabian Lorentz gegründet worden. Er war der Nachkomme einer langen Reihe von Fischern, und man hatte erwartet, daß er in die Fußstapfen seiner Vorväter treten würde. Aber der Fisch ging immer mehr zur Neige, und der junge Fabian war ehrgeizig und intelligent und gedachte sich nicht mit dem gleichen mageren Auskommen wie sein Vater durchzuschlagen.
Er startete die Konservenfabrik mit leeren Händen, und als er Ende der siebziger Jahre starb, hinterließ er seiner Ehefrau Nelly außer einer gutgehenden Firma auch ein ansehnliches Vermögen. Im Unterschied zu ihrem Mann, der sehr beliebt gewesen war, stand Nelly Lorentz im Ruf, hochnäsig und kalt zu sein. Selten nur zeigte sie sich im Ort und gab, einer Königin gleich, lediglich Audienzen für besonders eingeladene Gäste. Es war daher eine Sensation sondergleichen, sie durch die Tür treten zu sehen. Das gab für Monate Stoff zum Tratschen.
Es war so still im Raum, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Frau Lorentz ließ sich gnädig von Henrik aus dem Pelz helfen und kam an seinem Arm ins Wohnzimmer. Er führte sie zum Sofa in der Mitte, wo Birgit und Karl-Erik saßen, während sie einigen Auserwählten unter den übrigen Gästen leicht zunickte. Als sie Alex’ Eltern erreicht hatte, kamen die Gespräche endlich wieder in Gang. Gerede über dies und das, wobei sich alle anstrengten, zu hören, was am Sofa gesagt wurde.
Eine von denen, die ein gnädiges Nicken erhalten hatte, war Erica gewesen. Da sie im Ort fast eine Berühmtheit war, hatte man sie für würdig befunden, ihr nach dem Tod der Eltern gelegentlich eine Einladung zu senden, die sie zum Tee bei Nelly Lorentz bat. Mit der Entschuldigung, daß sie sich noch immer erholen müsse, hatte Erica stets höflich abgelehnt.
Sie betrachtete Nelly neugierig, die jetzt Birgit und Karl-Erik sehr förmlich ihrer tiefsten Sympathie versicherte. Erica bezweifelte, daß es in dem Körper mit der pergamentartigen Haut Platz für irgendwelche Sympathien gab. Nelly war äußerst mager, und aus den Ärmeln des maßgeschneiderten Kostüms ragten ihre knochigen Handgelenke hervor. Bestimmt hatte sie ihr Leben lang gehungert, um modisch schlank zu sein, aber nicht begriffen, daß dies mit zunehmendem Alter immer weniger ansehnlich wurde. Ihr Gesicht war spitz und hatte scharfe Konturen, wirkte aber erstaunlich glatt und frei von Falten, was in
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