Die Eisprinzessin schläft
des schönen Parks, der wie eine Oase mitten in Stockholm lag, bot ihr genau die meditative Atmosphäre, die sie in diesem Augenblick brauchte.
Der Schnee mußte hier erst kürzlich gefallen sein, denn er war noch immer weiß. In Stockholm reichte ein Tag, manchmal brauchte es zwei, bis der Schnee sich in eine schmutziggraue Pampe verwandelte. Sie setzte sich auf eine der Parkbänke, nachdem sie zunächst ihre Handschuhe als Kälteschutz untergelegt hatte. Mit einer Harnwegsinfektion sollte man nicht spaßen, sie wäre das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.
Erica ließ die Gedanken treiben, während sie die vielen Leute betrachtete, die in ihrer Mittagspause an ihr vorbeihetzten. Sie hatte fast vergessen, was für ein Streß in Stockholm herrschte. Alle rannten hektisch hin und her und schienen auf der Jagd nach etwas, das sie nie richtig einholen konnten. Sie sehnte sich plötzlich zurück nach Fjällbacka. Sie hatte offenbar selbst noch nicht begriffen, wie sehr sie die Ruhe dort in den vergangenen Wochen genossen hatte. Zwar hatte sie viel um die Ohren gehabt, aber zugleich hatte sie einen Frieden in sich verspürt, den sie in Stockholm nie erlebt hatte. War man in Stockholm allein, dann war man völlig isoliert. In Fjällbacka aber war man, im Guten wie im Schlechten, nie allein. Die Leute kümmerten sich und hatten ihre Nachbarn und Mitmenschen im Blick. Manchmal konnte das zu weit gehen, all das Getratsche nervte Erica natürlich auch, aber als sie jetzt so da saß und den Mittagsverkehr betrachtete, fühlte sie, daß sie hierher nicht zurückkehren konnte.
Wie so oft in der letzten Zeit dachte sie an Alex. Warum war sie jedes Wochenende nach Fjällbacka gefahren? Wer war es, den sie dort treffen wollte? Und dann die Zehntausendkronenfrage: Wer war der Vater des Kindes, das sie erwartet hatte?
Erica erinnerte sich plötzlich an das Papier, das sie in dem dunklen Schrank in die Manteltasche gesteckt hatte. Sie begriff nicht, wie sie vergessen konnte, sich das anzusehen, als sie vorgestern nach Hause gekommen war. Sie fühlte in der rechten Tasche nach und bekam ein zerknittertes Blatt Papier zu fassen. Mit Fingern, die ohne die Handschuhe steif geworden waren, faltete sie es vorsichtig auseinander und strich die Seite glatt.
Es war die Kopie eines Artikels aus der »Bohuslän Tidning«. Es stand kein Datum dabei, aber aufgrund des Schriftbilds und einer schwarzweißen Abbildung im Artikel konnte sie feststellen, daß er nicht neu war. Nach dem Bild zu urteilen, stammte er aus den siebziger Jahren, und sie kannte den Mann auf dem Bild und auch die Geschichte, die der Text berichtete, sehr wohl. Weshalb hatte Alex diesen Artikel zuunterst in einer Kommodenschublade versteckt?
Erica stand auf und stopfte das gefaltete Blatt wieder in die Manteltasche. Hier gab es keine Antworten. Es war an der Zeit, daß sie nach Hause zurückkehrte.
Die Beerdigung war schön und feierlich, auch wenn die Kirche von Fjällbacka alles andere als gut besucht war. Die meisten hatten Alexandra nicht gekannt, und die Erschienenen wollten nur ihre Neugier befriedigen. Die Familie und die Freunde hatten in den ersten Bankreihen Platz genommen. Außer Alex’ Eltern und Henrik kannte Erica nur Francine. Neben ihr in der Bank saß ein großer blonder Mann, von dem Erica annahm, daß er ihr Gatte war. Ansonsten gab es nicht sehr viele Freunde. Sie füllten kaum zwei Bankreihen und bestätigten das Bild, das Erica sich von Alex machte. Bestimmt hatte sie eine Unmenge Bekannte gehabt, aber nur wenige enge Freunde. Auf den restlichen Plätzen saßen nur hier und da ein paar Neugierige.
Erica selbst hatte auf der Empore Platz genommen. Birgit hatte sie vor der Kirche bemerkt und sie aufgefordert, sich zu ihnen zu setzen. Erica hatte freundlich abgelehnt. Es wäre ihr heuchlerisch vorgekommen, dort bei der Familie und den Freunden zu sitzen. Eigentlich war Alex eine Fremde für sie.
Erica rutschte auf der unbequemen Kirchenbank hin und her. Während ihrer ganzen Kindheit hatte man Anna und sie sonntags mit fester Hand in die Kirche geschleppt. Für ein Kind war es entsetzlich langweilig, ellenlange Predigten und Kirchenlieder durchzustehen, deren Melodien sich unmöglich erlernen ließen. Um sich zu beschäftigen, hatte Erica Geschichten erfunden. Hier waren Märchen von Drachen und Prinzessinnen entstanden, ohne jemals aufs Papier gebracht zu werden. Als sie älter wurde, nahm die Zahl der Besuche aufgrund ihres heftigen
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