Die Eistoten: Thriller (German Edition)
vollbringen konnte?«
Was für eine Frage! Sie hatte nur den Zweck, Alice aus der Reserve zu locken, dass sie schrie und sich entrüstet gab. Dies würde sie dann morgen auf der Titelseite des Allgäuer Blattes finden zusammen mit einem Foto von Großvater.
Der Killerrentner von Hintereck. Rentner und Kriegsveteran verhaftet. Verdacht auf sexuellen Missbrauchs und Ermordung eines jungen Mädchens.
Die Elf hatte etwas mit den Morden zu tun … irgendetwas. Die Gesichter auf den Fotos bei Lehmko … Die lateinischen Textstellen in der Messe, das Vaterunser auf Lateinisch, als sie mit dem Priester sprach, die Sprache, die nur der Pfarrer und der Lehrer verstanden. Alice schloss die Augen und suchte nach Verbindungen, nach Formen, die fassbar waren. Die starre Haltung der Leute auf dem Foto. Seine Familie … Doch all das war kein Beweis, ja, es war noch nicht einmal eine nachvollziehbare Hypothese.
»Jeder Mensch kann einen anderen töten«, antwortete Alice. »Kein Mensch kann dies bei sich hundertprozentig ausschließen.«
»Ich kann doch von mir sagen, dass ich niemals einen Menschen töte.«
»Das heißt aber, dass Sie dazu in der Lage wären.«
»Wie spitzfindig. In deinem Alter …«
»Ich weiß, da haben Sie noch mit Puppen gespielt.«
»Mit Puppen und Büchern.«
»Mein Großvater ist aber kein Mörder.«
»Die Beweise gegen ihn sind erdrückend. Nicht nur, dass die Polizei ein Kleidungsstück der toten Emma Bratschneider in seinem Haus gefunden hat, man hat auch – das habe ich aus vertraulichen Kreisen – DNA-Spuren deines Großvaters auf der Leiche gefunden.«
»Die jemand auch absichtlich dort platziert haben könnte.«
»Möglich, aber warum sollte er das tun?«
»Um von sich abzulenken.«
»Bisher ist die Theorie vom Serienmörder nur etwas, was in Mulders Kopf existiert hat. Es gibt keinen Beweis für seine These. Inzwischen suche ich Berichte der Bewohner von Hintereck zusammen. Wenn die Polizei erst einmal bekannt gibt, dass es sich beim Tod von Emma Bratschneider um ein Verbrechen handelt und bereits ein Verdächtiger verhaftet wurde, wird es hier überall von Presse wimmeln. Es wird dann keinen Winkel mehr geben, in dem nicht ein Mikrofon oder eine Kamera steht.«
Alice blickte abwesend über die Dächer zu den eingehüllten Gipfeln. Schneeflocken trieben aus dem verhangenen Himmel. Sie musste an Tom denken. Sie hätte ihn nie mit in die Sache hinziehen sollen. Er hatte geglaubt, dass es sich um ein Spiel handelte, etwas, was wie seine Spiele in seinem Computer war und was nichts mit seinem Leben zu tun hatte. Nun hing er an Schläuchen, und sie war nicht einmal bei ihm. Die Journalistin stellte ihr Fragen, die keine waren und die dann später im Artikel Sätze ergaben wie … Das gesamte Dorf steht unter Schock. Seit Jahren gab es kein Verbrechen mehr. Überall herrscht Angst. Ein kleines Mädchen ist sprachlos und kann es nicht fassen. Sie ist die Enkelin des … Niemand, der die Zeitung las, bekam auch nur den Funken einer Vorstellung davon, was seit Jahren in ihrem Dorf vor sich ging. Die Wahrheit interessierte auch niemanden.Die Presse hatte für einen gewissen Unterhaltungswert zu sorgen. Den Chill am Abend, das Entsetzen zwischen Tagesschau und Tatort im Fernsehen. Alice überkam plötzlich ein Ekelgefühl, ein Gefühl, vor dem sie Wittgenstein schon gewarnt hatte. Die Pforte der Philosophen. Wer in unsere Welt eintritt, der ist nicht mehr derjenige, der er war. Alles wird anders sein. Du wirst anders sein, und es gibt kein Zurück mehr.
Die Zunge der Journalistin wälzte sich wie eine fette Schlange in ihrem Mund. Die Töne, die sie von sich gab, waren sinnlose Fetzen. Ihr Gesicht verschwamm in Zeitlupe, als handelte es sich um Plastikfolie, die über einer undefinierbaren Masse gespannt war. Alice fiel die Maske des Clowns ein, die roten Augen dahinter, die scharfen Zähne.
Als die Journalistin ihr ein Mikrofon unter die Nase hielt und zum x-ten Mal wiederholte: »Erzähl uns doch mal, wie du dich fühlst…«, da wurde es Alice zu bunt. Sie schlug der Journalistin das Mikrofon aus der Hand und drehte sich um.
»Wie wir sehen können, liegen die Nerven in Hintereck blank«, brabbelte die Journalistin.
»Leck mich doch am Arsch«, hörte Alice sich sagen, und sie wunderte sich, wie gut ihr der Satz tat. »Kreuzweise …«
In diesem Moment hielt ein Wagen neben ihr. Die Beifahrertür ging auf, so dass Alice gegen die Innenverkleidung prallte. Sie hielt sich an der Tür
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