Die Eistoten: Thriller (German Edition)
und schieben.«
»Und wer soll fahren?«
»Na ich. Das kann nicht so schwer sein.«
»Kannst du fahren?«
»Nein, aber ich habe meinem Vater oft zugesehen.«
Er erklärte ihr kurz, wie sie die Kupplung langsam kommen lassen sollte, doch Alice hatte viel mehr das Problem, wie sie mit den Füßen die Pedale erreichen konnte. Autos waren etwas für große Menschen. Wenn sie so klein blieb, wie sie jetzt war, dann könnte dies zum Problem werden. Sie rutschte zu den Pedalen. Zwar sah sie nicht mehr zur Windschutzscheibe hinaus, was aber auch nicht nötig war. Auf Kommando gab sie Gas und dann … Ein Schrei. O ja, der Kommissar hatte ihr das mit dem Gang gesagt. Sie tauchte aus der Versenkung auf. Der Wagenstand nun quer auf der Fahrbahn, aber mit den Rädern auf der geräumten Fahrbahn. Nur von Engelhardt fehlte jede Spur. Einen Moment später klopfte er sich den Schnee von den Kleidern und kletterte hinter einem Schneehaufen hervor.
»Was machen Sie im Schnee?«
»Ich sagte doch den ersten Gang, nicht den Rückwärtsgang.«
Alice nickte. »Ich brauche noch ein paar Stunden Übung.«
Sie fuhren weiter.
»In diese Richtung geht es aber nicht zu mir nach Hause.«
»Willst du nicht mit deinem Großvater sprechen?«
Alice glaubte sich verhört zu haben.
»Ist es möglich?«
»Ich habe einen guten Draht zum Staatsanwalt, und mein Chef hat nichts dagegen.«
»So einfach?«
»Einfach nicht, aber ein paar Minuten kannst du mit ihm reden.«
»Alleine?«
Engelhardt nickte.
Plötzlich waren alle bürokratischen Hürden beseitigt. Weder ihr Vater sollte verständigt werden, noch waren die strengen Besuchsregeln der U-Haft im Wege. Es klang zu schön, zu schön, um wahr zu sein. Großvater meinte öfter: Wenn dir jemand sagt, dass du nur gewinnen kannst und alles einfach ist, dann hast du entweder einen Staubsauger gekauft, oder du bist im Irrenhaus.
»Sie müssen mir glauben«, sagte Alice, »mein Großvater hat damit nichts zu tun.«
»Das will ich gern glauben. Bisher sprechen die Indizien gegen ihn.«
»Er hat den Hausmeister nicht gekannt.«
»Wir haben zwei Aussagen, die das Gegenteil behaupten.«
»Wer erzählt solche Lügen?«
»Bekannte deines Großvaters.«
»Wegener … Gruber.«
»Du kennst sie?«
»Wer kennt sie nicht. Der Stammtisch. Sie stecken bis zum Hals in der Geschichte drin und wälzen alles auf meinen Großvater ab.«
»Was für eine Geschichte?«
»Na, die Geschichte mit dem Vater von Ina Zugl.«
»Ina Zugl … Der tragische Tod des Mädchens, das vor vier Jahren in dem eisigen Winter erfroren ist?«
»Es war genauso wenig ein tragischer Tod wie der Tod Emma Bratschneiders. Es war Mord.«
»Und was haben Wegener und Gruber damit zu tun?«
»Sie haben dem Vater Inas Geld geliehen, dass er einen Journalisten bezahlen konnte, der sich als Privatdetektiv ausgab.«
»Wozu?«
»Um den Täter zu finden. Inas Vater war davon überzeugt, dass seine Tochter ermordet worden war. Auch wenn die Polizei keine Hinweise fand, er glaubte den Recherchen dieses Journalisten. Jakob Mulder ließ sich von ihm den Hintern vergolden. Zugl hatte keinen Cent mehr, seine Frau landete in der Psychiatrie und er mit dem Kopf in der Kreissäge. Allgäuer Idylle.«
»Wenn dir jemand in der JVA Fragen stellen sollte, so antwortest du nicht. Überlass mir das Reden. Dieser bürokratische Mist ist kompliziert.«
»Verstehe«, gab Alice kleinlaut von sich.
Irgendetwas war faul an der Sache. Sie hatten die Hauptstraße nach Hindelang schon erreicht, als der Kommissar das Radio einschaltete. Alices Schweigen schien ihn zu stören, oder derKommissar gehörte zu der Sorte von Mensch, für die Stille noch schlimmer als Dauerlärm war.
»Sie glauben nicht daran, dass es einen Serienmörder in Hintereck gibt«, sagte Alice ohne Vorwarnung. »Sie glauben nicht, dass es in Hintereck jemanden gibt, der seit Jahren Menschen tötet, ohne dass es jemand merkt.«
»In der Kriminalistik wäre dies in der Tat eine Ausnahme. Die meisten Serienmörder wollen, dass man ihre Opfer findet. Sie genießen ihre anonyme Berühmtheit in der Presse. Sie haben es gesellschaftlich zu etwas gebracht, sie sind jemand, selbst wenn sie nur von allen gehasst werden. Sie schwelgen in ihren Bluttaten und vergrößern mit jedem Mord ihre Geheimnisse. Der Killer in ihnen wird zu einer Persönlichkeit. Und die Presse und das Leid und der Kummer der Menschen sind wie eine Bestätigung für die Existenz ihrer dunklen Hälfte. Ihre bürgerliche
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