Die Eistoten: Thriller (German Edition)
mir hatte sich Lehmko schon mehr Mühe gegeben. Er hatte es geschafft, dass mein Vater aus dem Haus war.«
»Wie das denn?«, meinte ihr Vater. »Den Braten hätte ich auf zehn Kilometer Entfernung gerochen.«
»Der Brandanschlag im Kaufhaus. Lehmko rechnete damit, dass du zu so einem Großeinsatz gerufen würdest.«
»Du meinst, er hat ein Kaufhaus angezündet und das Leben von unzähligen Menschen riskiert?«
»Ja, um von seinem eigentlichen Ziel abzulenken. Er wolltemich aus dem Weg räumen. Ich hatte mit Tom die Leiche von Emma Bratschneider im Wald gefunden. Es sollte wie ein Unfall aussehen. Da wir die Leiche schon vorher gefunden haben, war es schwieriger, es wie einen Unfall aussehen zu lassen.«
Engelhardt telefonierte und schickte zwei Streifenwagen zu Lehmkos Haus. Er hielt den Hörer kurz weg vom Ohr und blickte Alices Vater an.
»Kennen Sie die genaue Adresse von Lehmko?«
»Nummer 11. An der Ecke Talstraße, Kirchstraße.«
»Welche Straße?«
»Ist egal. Es gibt nur eine Nummer 11 in Hintereck. Die Straße dazu finden sie.«
Es gab nur eine Nummer 11 in Hintereck. Alice glaubte sich verhört zu haben. Warum war sie nicht selbst auf diese Idee gekommen? Der Pfarrer wusste es schon lange. Das Beichtgeheimnis hatte ihn geknebelt. Bez war an seinen Glauben gefesselt. Seine Schmierereien waren wie eine Flaschenpost in der Hoffnung, jemand würde hinter das Geheimnis sehen, jemand, der Fragen stellte. Bez selbst konnte den Mörder nicht verraten. Er ging allein in den dunklen Wald, aber er streute Brotkrumen aus.
»Wir müssen schnell handeln«, sagte Engelhardt. »Wie lange brauchen Sie, um nach Hintereck zu kommen?«
Alices Vater schien plötzlich hellwach zu sein. »Bei dem Schnee sind wir in einer Dreiviertelstunde da.«
»Schaffen Sie es auch schneller?«
Alice kramte in Toms Schrank nach Kleidern.
»Hey, erst isst jemand meine Giftpralinen, und jetzt klaut man mir noch die Klamotten.«
»Du bekommst sie wieder«, sagte Alice und schlüpfte in die Schlotterjeans.
»Du siehst aus wie ein Clown in meinen Klamotten.«
Sie griff kurz nach seiner Hand, zog die Pudelmütze über ihren Kopf und rannte Engelhardt und ihrem Vater hinterher. An der Treppe holte sie die beiden ein.
»Du bleibst hier«, wies ihr Vater sie knapp zurecht. Polizistenton. Fahren Sie rechts ran!
»Wie willst du ohne mich Amalia finden?«
Zwei Minuten später rasten sie mit dem Geländewagen ihres Großvaters über die schneeverwehten Straßen. Vereinzelt krachten schon verfrühte Feuerwerkskörper. Das neue Jahr begann in ein paar Stunden. Keiner sprach im Wagen. Engelhardt versuchte seine Kollegin zu erreichen, doch die Kriminalpsychologin antwortete nicht. Alice konnte im Gesicht des Polizisten ablesen, dass er Angst hatte, Angst, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Und Alice schwor sich, nie wieder Amalias Haare mit Kleber zu verunstalten, wenn sie sie rechtzeitig fanden. Was zum Teufel hatte Stephan mit ihr vor? Es war immer Stephan … Als Adibert von Korrekturen sprach, dann meinte er damit, Spuren und Zeugen beseitigen, die sein Sohn hinterlassen hatte. Die Realität korrigieren, die sein Sohn als Eismörder festgeschrieben hatte. Hatte er versucht, seinen Sohn daran zu hindern, all diese Morde zu begehen? Warum mordete Stephan, und dies seit Jahren? Wenn die Liste stimmte, die Mulder aufgestellt hatte, dann mussten die ersten Eismorde vor zehn Jahren geschehen sein. Da war Stephan gerade mal sieben Jahre alt. Wenn Stephan schon mit sieben getötet hatte, dann hatte Adibert Lehmko nur die Wahl: entweder seinen Sohn für den Rest seines Lebens in einer Psychiatrie besuchen zu können oder die Morde zu vertuschen. Das war der Preis für ein normales Leben. Adibert Lehmkos Korrekturen.
38.
Nummer 11. Vor dem Haus stand der Wagen der Polizeibeamtin. Engelhardt klingelte, dann klopfte er mit der Faust an die Eingangstür. Kein Ton.
»Verdammt, wie kommen wir ins Haus? Überall Gitter. Die Türen stahlverstärkt. Da hat sich jemand von der Außenwelt abgesichert.«
Alice blickte unter dem Fußabstreifer nach. Schließlich war es möglich, dass noch mehr Großvaters Theorie anwandten. Unter dem Fußabstreifer war nichts. Das einzige Fenster, vor dem kein Gitter war, war das Klofenster neben dem Eingang. Gitter waren nicht nötig, da ein Erwachsener niemals durchpassen würde. Ihr Vater verstand als Erster, und einige Sekunden später schlug Alice mit einem Stein das Fenster ein. Es dauerte, bis sie die
Weitere Kostenlose Bücher