Die Eistoten: Thriller (German Edition)
erreichten. Da kam auch schon ihr Vater herbeigeeilt. Bevor er sie hochtrug, blickte Amalia zu Alice. Sie streckte ihre Hand aus, und ihre Fingerberührten sich. Es dauerte nur eine Sekunde, und es sollte auch das einzige Mal in ihrem Leben bleiben, dass sie sich so nahe waren.
Der Notarzt kümmerte sich um die verletzte Kriminalpsychologin. Die Göttin der Dichter und Lehrer hatte ihr eine üble Platzwunde am Kopf verpasst, die allerdings schlimmer aussah, als sie war. Die Wucht des Schlages hatte jedoch eine Gehirnerschütterung verursacht. Der Notarzt hatte ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt. Als sie aus der Bewusstlosigkeit aufgewacht war, fiel ihr Bericht knapp aus. Sie hatte auf dem Klo gesessen, als Stephan in das Bad gestürmt war. Er hatte sich das Gesicht weiß geschminkt und wie ein Irrer gekreischt. Noch bevor sie ihre Hose hochziehen konnte, schlug er mit etwas Schwerem auf sie ein. Danach konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Nur an diesen starren Blick Stephan Lehmkos, bevor sie fiel. Sein Gesicht war verzerrt gewesen. Er hatte völlig verändert ausgesehen.
Amalia zitterte am ganzen Leib. Aus ihr war kein Wort herauszubekommen. Im Krankenwagen bat sie den Sanitäter, dass er sie bitte nicht auf der Liege festschnallte. Auch wenn es Vorschrift war. Engelhardt sprach kurz mit ihr.
»Wo finden wir Stephan Lehmko?«
Amalia schüttelte nur den Kopf. »Ich gehöre jetzt zur Familie, hat er mir gesagt. Ich gehöre jetzt zur Familie … Ich konnte doch nicht wissen, was er damit meinte … Ich konnte es doch nicht wissen.«
Der Sanitäter schloss die Tür. Der Krankenwagen fuhr los.
»Ich habe gerade mit dem Staatsanwalt gesprochen«, sagte Engelhardt. »Die Anklage gegen deinen Großvater wird fallen gelassen. Es sieht ganz danach aus, als ob dein Opa Opfer einer perfiden Intrige geworden ist.«
»Sie wollten ihn als Sündenbock für die Morde. Und beinahe hätten sie es geschafft«, sagte Alices Vater. »Doch am Schlimmsten ist nicht, dass man ihn beschuldigte, sondern dass ich an ihm zweifelte.«
»Wir haben uns alle getäuscht, und diese Lehmkos bleiben ein Geheimnis …«
»Was für ein Geheimnis?«, wollte Alices Vater wissen.
»Nun, jeder glaubte, den Lehrer und seinen Sohn zu kennen. Jeder im Dorf schätzte Lehmko. Ein Mann der Bücher, der gebildet war, der als Lehrer einen guten Ruf genoss und dem die Eltern ihre Kinder blind anvertrauten … Es gab nichts, was auch nur im Entferntesten andeutete, was Stephan Lehmko in Wirklichkeit war«, sagte Engelhardt.
»Sein Vater wusste es«, sagte Alice, »von Anfang an. Ich weiß nicht, wann Stephan Lehmko mit dem Töten begonnen hat. Wer weiß, wie viele Katzen er gequält oder umgebracht hat. Er war noch klein, als es begann, und wenn die Liste des Journalisten richtig war, dann hat Stephan Lehmko schon mit sieben Jahren seinen ersten Mord begangen. Mulder hatte eine Karte gezeichnet, auf der man die Verteilung der Opfer sehen kann. Sie lagen alle nahe der Ostrach, in der Nähe von Kapellen oder Wegkreuzen. Und Stephans Vater wusste von der heimlichen Mordleidenschaft seines Sohnes, doch anstatt ihn einsperren zu lassen, hat er ihn gedeckt und geholfen, seine Spuren zu verwischen. Das ging so weit, dass Adibert Lehmko Zeugen beseitigte und Leute, die der Wahrheit zu nahe kamen.«
»Und wie kommt ein Siebenjähriger dazu, einen Mord zu begehen?«, wollte Alices Vater wissen.
Engelhardt schwieg, was für Alice so viel hieß wie, dass man ihren Expertenrat wünschte.
»Der Serienmörder Ted Bundy hat getötet, weil er seine Opfer besitzen wollte. Nicht nur besitzen, er wollte sich ihre Seeleneinverleiben. Für Bundy war es ein ungeheuerliches Gefühl der Macht. Es gibt sogar Meinungen von Kriminologen, die sagen, dass es sich um eine Art primitiven Reflex handelt, der zur Folge hat, dass der Sieger sein Opfer verspeist.«
»Stephan hat sie betäubt und dann erfrieren lassen. Das wird wohl kaum eine moderne Art von Kannibalismus mit Gefriertruhen-Reflex sein.« Ihr Vater hatte wieder diesen superklugen Ton, den sie an ihm nicht ausstehen konnte.
»Stephan wollte ungestört töten … ohne Schnüffler, ohne Wachhunde … einfach alleine in der Nacht. Deshalb hatte er in der Nacht vor dem Mord an Emma alle Hunde in Hintereck getötet. Alle Hunde, die er draußen antraf. Dann hat er sich an sein Werk gemacht.«
»Ich glaube nicht, dass Stephan Lehmko einen Plan hatte«, sagte ihr Vater. »So ein Vorgehen sieht nach einem Irrsinnigen aus. Sein
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