Die Eistoten: Thriller (German Edition)
zu beruhigen, und Wegener lehnte sich zurück. »Wir wissen doch, was du machst mit die Weiber. Nicht einmal an ihrem Geburtstag warst bei ihr, nicht einmal da.«
»Halt jetzt das Maul.«
»Das Maul lass ich mir nicht …«
Oberschrat sprang auf und zog Haas über den Tisch. Wegener konnte sein Glas retten, ein leeres Weizenglas schwankte und fiel auf den Boden.
Tom seufzte.
Alice streckte ihm ihre offene Hand hin. »Ich wusste es doch …«
»Du hast geraten«, sagte Tom.
Sie zogen ihre Mützen und Mäntel an. Die eisige Luft schnitt in ihre Gesichter. Sie schlugen den Weg nach Hause ein, doch Alice zögerte.
»Lass uns zur Kirche gehen.«
»Die ist schon zu … fast halb zehn.«
»Sei kein Spielverderber, los.«
Tom trottete Alice hinterher. An einigen Stellen schlitterten sie über festgefrorene Pfützen.
»Gib zu, dass du vorher geraten hast.«
»Hab ich nicht.«
»Du konntest nicht wissen, dass der Oberschrat auf den Haas losgeht. Wahrscheinlich wusste Oberschrat selbst nicht, dass er heute am Stammtisch auf den Haas losgeht.«
»Menschen wissen selbst oft nicht, warum sie etwas tun …«
»Der Oberschrat war sauer, weil der Haas ihn provozierte, und weil er sauer war, hat er ihn über den Tisch gezogen.«
»Aber es ist jedes Mal etwas anderes. Beim letzten Mal haben sie sich wegen dem Maibaum in die Haare gekriegt …«
Karl Oberschrat hatte die Schwester von Anton Haas geheiratet. Vor zehn Jahren hatte ihre Hand zu zittern begonnen, zwei Jahre später ließ Karl Oberschrat sie in ein Pflegeheim einweisen. Parkinson. Für Karl Oberschrat war damit seine Aufgabe erledigt. »Was kann ich dafür, wenn sie verrückt wird?«, rechtfertigte er die Tatsache, dass er seine Frau nicht besuchte. Seine Frau hatte den Verstand verloren. Sie war nicht mehr seine Frau, sie war nicht mehr diejenige, die er geheiratet hatte. Auch wenn Haas das Gegenteil behauptete.
»Es ist Weihnachten«, erklärte Alice, »und Oberschrat hat seine Frau nicht besucht wie jedes Jahr. Das bringt Haas auf die Palme. Manche Menschen sind berechenbar.«
Vor dem Haupteingang der Kirche hatte das Wasser, mit dem der Pfarrer die Schmierereien abgewaschen hatte, den Schnee rot gefärbt. Ganz hatte er die 11 nicht entfernen können. Das Blut war tief in die Poren der Holzpforte eingedrungen.
Derjenige, der die Pforte beschmiert hatte, hatte es eilig gehabt. Alice suchte die Ränder ab. Überall Spritzer. Er musste mit einem Behälter zur Kirche gekommen sein. Es musste jemand gewesen sein, der nicht auffiel.
»Alice …«
Sie drehte sich um. Tom stand fünf oder sechs Meter entfernt an der Längsseite der Kirche. Sein rechter Arm zeigte auf die Mauer. Eine andere 11.
»Das heißt nichts Gutes …«, murmelte Alice vor sich hin.
»Wer schmiert die Kirche voll einen Tag vor Weihnachten, wenn alle im Dorf in der Kirche sein werden?«
»Vielleicht gerade deshalb.«
Tom hatte sich verabschiedet und verschwand auf dem dunklen Pfad, der steil hinter den Fichten anstieg. Die Straße zum Hotel war zwar geräumt, schlängelte sich aber in unendlichenMäandern nach oben. Der Pfad zur verbrannten Mutter Gottes war erheblich kürzer.
Als Alice am Haus war, stand ihr Großvater schon in der Tür. Die Kirchturmglocke schlug zehn Uhr.
»Dein Vater hat angerufen«, sagte er. »Ich habe ihm gesagt, dass du vor dem Haus im Schnee spielst.«
Alice klopfte den Schnee von ihren Schuhen. Durch die offene Tür drangen Licht und Wärme. Sie schenkte ihrem Großvater ein verschwörerisches Lächeln. Sie hatte die Schuhe noch nicht ausgezogen, als sie sich umdrehte und in die Dunkelheit blickte.
»Hast du das gehört, Opa?«
»Ich höre gar nichts.«
»Genau das meine ich ja. Es fehlt etwas. Die Glocke schlug zehn und danach nichts …«
»Wenn sie danach noch einmal schlägt, dann ist es elf«, spöttelte ihr Großvater, »oder es brennt im Dorf.«
»Nein, ich meine die Hunde. Kein Gekläffe, nichts. Schon den ganzen Tag habe ich nicht einen Hund bellen gehört. Das ist doch seltsam, oder?«
»Ich empfinde es als eine Wohltat.«
Die Wärme im Haus ließ Alice die Dunkelheit draußen vergessen. Amalia hing wie immer am Telefon. Sie gab sich solche Mühe, so zu tun, als wäre es ein Anruf, den sie nur nebenbei annahm. Doch sogar ihr Vater konnte nicht übersehen, wie Amalia praktisch danach gierte, den Hörer in die Hand zu bekommen und mit dem tragbaren Telefon in ihr Zimmer zu verschwinden. Die Gelegenheit für einen passenden Kommentar, die
Weitere Kostenlose Bücher