Die Eistoten: Thriller (German Edition)
vergangen sein, als sie eine Veränderung in sich spürte. Es war, als hätte sie zu lange hinaus in die Nacht gestarrt und als würde die Nacht nun in sie hineinblicken. Wieder lauschte sie … Da war nichts. Sie öffnete das Fenster. Die Kälte strich ihr über die Wangen. Sie hatte sich nicht getäuscht. In dieser Nacht bellte kein einziger Hund. Nicht einmal die beiden Jagdhunde Wegeners, die immer bei Einbruch der Dunkelheit kläfften.
Alice schloss das Fenster. Sie dachte an die Schmierereien an der Kirche und die verzweifelten Bemühungen des Pfarrers, alles wegzuwischen. Was hatte die 11 nur zu bedeuten? Das war kein Kinderstreich. Steckte ein Fremder dahinter? Doch aus welchem Grund sollte ein Fremder die Dorfkirche beschmieren?
Auf einmal durchzuckte sie eine Idee. Sie leerte ihre alten Kisten auf dem Boden aus, in denen sie die Erinnerungsstücke ihrer Mutter aufbewahrt hatte. Die Haarspange, eine Hautcreme und eine Haarbürste. Ihre Schätze. Ihre Mutter hatte sie ihr gekauft, als sie zusammen in der Stadt gewesen waren. Wenn du mal größer bist … Du wirst mich nie sehen, Mama, wenn ich groß bin. Alice streckte ihre Hand zum Boden der Kiste. Die Fotoalben hatte sie in Plastiktüten eingepackt. Sie nahm das Album, das sie vom Dachboden geholt hatte. Ihr Vater hatte es dort deponiert. Es war das Fotoalbum aus dem Jahr, als ihre Mutter starb.
Alice schlug die Seite auf, auf der Weihnachten 2004 stand. Sie ging die einzelnen Fotos durch, bis sie es entdeckte, ganz deutlich. Es war kein Zweifel. Und Alice war sich sicher, dass es sich nicht um einen Zufall handelte.
Nur wer glaubt dir schon? Du bist allein.
Weihnachten 2004 . Die Schrift über den Fotos gehörte ihrem Vater. Die Fotos zeigten die Kirche. Auf dem ersten war nichts Außergewöhnliches zu erkennen. Die Pforte war geöffnet. Leute in dicken Mänteln drängten zum Ausgang. Die Aufnahme war bei Tageslicht gemacht worden, was darauf schließen ließ, dass es sich um das Ende des Nachmittagsgottesdiensts handelte. Die Stufen waren von Neuschnee bedeckt. Es musste also geschneit haben während des Gottesdienstes. Das zweite Foto musste am selben Tag entstanden sein. Nur ein paar Stunden später. Wer hatte die Aufnahme gemacht? Ihr Vater, ihre Mutter? Auf den Stufen hatte sich die Schneedecke verdichtet. Eswar bereits dunkel. Der Himmel hatte eine matt dunkelgraue Farbe, so als hätte jemand Altöl ausgegossen. Die Aufnahme wurde mit Blitzlicht gemacht.
Alice wischte mit dem Finger über das Bild. Die weißen Punkte waren kein Staub, sondern Schneeflocken. Doch was Alices Hand zittern ließ, waren nicht diese beiden Bilder, auf denen kein Mensch zu erkennen war, sondern die Pforte. Sie war geschlossen, und in dicken Pinselstrichen brannte dort auf dem dunklen Holz eine rote 11.
Das Foto musste gegen 16 Uhr oder 16.30 Uhr gemacht worden sein. Drei Stunden später war ihre Mutter tot. Wenn ihre Mutter die Aufnahme gemacht hatte, dann musste es einen Grund gegeben haben, dachte Alice. Wozu fotografierte sie die geschlossene Kirchentür mit den Schmierereien? Sie war am 24. Dezember im Dorf, um noch ein paar Kleinigkeiten zu besorgen. Dafür hatte sie den Fotoapparat dabei? Und nach ihrem Tod ließ ihr Vater die Fotos entwickeln und klebte sie ins Fotoalbum? Ein Album, das dann auf dem Dachboden verschimmeln sollte, hätte Alice es nicht zufällig gefunden. All das gab keinen Sinn.
Alice fühlte, wie sich die Gedanken beschleunigten, sich aneinanderdrängten, als wollten sie alle gemeinsam durch ein winziges Schlüsselloch. Wer außer ihrer Mutter konnte dies Foto schon gemacht haben? Und wenn sie jemand dabei beobachtet hatte? Vielleicht hatte sie in diesem Augenblick etwas gesehen, was sie nicht sehen durfte.
Als man die Leiche ihre Mutter gefunden hatte, fand man keinen Fotoapparat bei ihr. Sie musste ihn jedoch bei sich gehabt haben, wenn sie die Fotos geschossen hatte. Warum hatte ihre Mutter Fotos von der verschmierten Kirchenpforte gemacht?
In diesem Augenblick hörte sie die Stimme ihres Vaters auf dem Gang.
Alice schaffte es noch gerade, ihre Unschuldsmiene aufzusetzen, als die Tür aufflog. Ihr Vater nahm das Fotoalbum und stellte es in den Schrank zurück, den Tabuschrank. Dort bewahrte ihr Vater seine Erinnerungen an ihre Mutter auf. Alice hatte nie verstanden, warum er ihr verboten hatte, den Schrank zu öffnen. Natürlich hatte sie den Schrank schon oft durchsucht. Die Pflicht einer Detektivin. Die Fotoalben, das Hochzeitsbild
Weitere Kostenlose Bücher