Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Alice nicht verstreichen lassen wollte.
»Warum schminkst du dich eigentlich, bevor du telefonierst? Dein Schatzi kann dich eh nicht sehen.«
»Halt bloß …«, zischte Amalia und biss sich auf die Lippen.
Alice hörte noch den letzten Halbsatz: »… meine Schwester, ja, sie ist wirklich eine Pest.«
Die letzte Nacht vor Heiligabend.
Am Fenster hatten sich Eisblumen gebildet. Die Dunkelheit draußen wirkte jetzt noch dichter. Die eisige Kälte und die Dunkelheit waren in Wahrheit die Welt. Die Wärme, der Ofen, ihr Großvater, ihr Vater, das waren nur kleine Inseln. Es war ein ständiger Kampf gegen die eisige Dunkelheit, gegen die einzige Wirklichkeit. Und schließlich verlor jeder diesen Kampf. Wie ihre Mutter.
Alice spürte, wie der Schlaf nach ihr griff, aus der Dunkelheit, die von draußen hereindrang, jenseits der Eisblumen. Sie sank in einen Schlaf, von dem ihr nur ein Traum am nächsten Tag bleiben sollte. Eine Horde Hunde rannte durch die leeren Straßen von Hintereck, dann quer über den Friedhof. Alice wusste nicht, ob die Hunde etwas jagten oder vor etwas flohen. Sie wusste nur, dass sie Angst hatten.
7.
24. Dezember
»Sie ist elf Jahre alt, verstehst du, elfffff.«
Die Stimme ihres Vaters. Alice zog sich an und trottete über die alten Bohlen zur Treppe, die ins Untergeschoss führte. An ihren Füßen huschte ein Schatten vorüber. Hobbes, der zwölf Jahre alte Kater. Ihre Mutter hatte ihn auf einem Rastplatz gefunden. Er war ausgehungert und krank. Selbst heute noch litt er unter einer merkwürdigen Krankheit, die ihn mit offenen Augen schlafen ließ.
Alice lauschte, wer noch unten sein konnte. Viele Möglichkeitengab es nicht. An ein oder zwei Wortfetzen erkannte sie ihren Großvater. Schlagartig wurde ihr bewusst, was geschehen war. Sie hätte sich ohrfeigen können. Verdammt, verdammt … Sie hatte ihren Rucksack mit den Büchern unten stehen lassen.
»Kannst du ihr nicht etwas kaufen, was ihrer Altersklasse entspricht? Ich weiß nicht, Harry Potter oder Pippi Langstrumpf.«
»Alice ist kein normales Kind«, antwortete ihr Großvater, »falls dir das entgangen ist. Sie langweilt sich mit dieser empfohlenen Kinderliteratur. Sie ist begabt.«
»Sie ist nicht begabt, sondern traumatisiert.«
»Das haben dir die Psychologen eingeredet.«
»Das sind wenigstens Spezialisten. Die wissen, von was sie reden.«
»Schon gut, aber hör doch einmal auf deine Tochter als nur auf irgendwelche Spezialisten.«
»Ich weiß nur eines, diese Art von Büchern, die du ihr dauernd kaufst, hinter meinem Rücken … Das lässt sie noch weiter in ihre Phantasiewelt abdriften.«
»Es sind Fachbücher und keine Fantasy-Bücher.«
»Sie versteht noch nicht, was sie mit diesem Wissen anfangen soll. Sie hat sich nicht mit dem Tod ihrer Mutter abgefunden. Es ist schwer, nicht nur für Alice. Sie glaubt, dass ihre Mutter ermordet wurde. Sie verwendet jede freie Minute damit, Sherlock Holmes zu spielen, aber nicht wie Kinder es tun, sondern sie glaubt daran. Alice kann sich nicht mit diesem tragischen Unfall abfinden.«
»Die beste Art für Alice, damit fertig zu werden, ist, die Realität mit kriminalistischen Methoden zu untersuchen. Du kannst sie nicht mit ein paar Kindererklärungen abspeisen. Dafür ist Alice viel zu klug.«
»Sie ist elf, das ist alles. Und im neuen Jahr liest sie mir so was nicht mehr.«
»Du machst einen Fehler, wenn du Alice das verbietest, ohne mit ihr zu reden.«
»Ich werde mit ihr reden.«
»Du solltest ihr vor allem zuhören.«
»Danke für deine Ratschläge. Aber ich habe schon einen Termin bei einem Kinderpsychologen gemacht.«
»Alice braucht keinen Psychologen. Sie braucht einen Vater, der ihr zuhört.«
Alice hatte Lust, sich den ganzen Heiligabend einzusperren. Warten, bis der Rummel vorbei war, die gespenstische Stille auf den Straßen, wenn hinter den geschmückten Fenstern gelacht und gesungen wurde. Dann schlich von den Bergen wieder die eisige Kälte in die Nacht. Sie war so dunkel wie ein Grab.
Die Stimme ihres Vaters war verstummt, so als hätte ihn ein böser Geist verlassen.
Von ihrem Zimmer aus sah Alice im Sommer auf eine Wiese und den Berghang, der hinter dem Fichtenwäldchen anstieg. Den ganzen Sommer über waren dort Kuhglocken, vereinzelte Stimmen von Bergwanderern, die von der Wollersalp abstiegen. Der Schnee hatte die Landschaft erstarren lassen. Kantige Schwarzweißzeichnungen, weiße Flächen und die darüberliegende Nacht. Minuten mussten
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