Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Haut.
» Mein Liebchen … ich komme bald nach Hause. Heiz den Ofen nicht an, ich komm aus der Kälte. Es war so lange kalt ohne dich. Bald sind wir zusammen … Das ist seine Handschrift. Liebchen hat er mich genannt, früher, als wir noch träumten.«
»Darf ich mal sehen?«
Die alte Frau faltete den Brief eilig wieder zusammen und steckte ihn ein. So als hätte sie schon zu viel verraten, so als könnte jedes weitere Wort die Rückkehr ihres Alois verzögern.
Was für ein merkwürdiger Brief, dachte Alice und blickte Adelheid Grundinger hinterher, wie sie durch den frischen Schnee zur alten Mühle stapfte. Aus ihrem Schornstein kam kein Rauch. Anscheinend hatte sie wirklich nicht angeheizt. Verrückte Alte! Aber Alice hatte Wichtigeres zu tun, sie hatte einen Mord aufzuklären.
Die Kirchturmuhr schlug Mitternacht. Dumpf schleppte sichjeder Ton den verschneiten Berghang hinauf, durch den tiefen Schnee. Der Sturm hatte, wie angekündigt, um acht Uhr abends eingesetzt. Die Temperaturen waren schlagartig gefallen. Das Thermometer an der Hauswand war im dunkelblauen Bereich, jenseits der minus fünfundzwanzig. Dann fiel der Strom aus. Überall im Dorf gingen die Lichter aus. Das Tal verwandelte sich in eine finstere Eishölle.
Von Tom immer noch keine Antwort. Eine einfache SMS auf ihr Handy mit dem Namen des Journalisten. Alice benutzte den Schein ihres Handys, um eine Kerze zu suchen. Am Fenster rüttelte der Sturm. Das bläuliche Licht reichte nicht einmal aus, um die Konturen der Dinge aus der Dunkelheit zu reißen.
»Bevor die Menschen auf den Weltplan traten, war die Nacht nur Finsternis.«
Wittgensteins fahle Wangenknochen waren vor ihr, so als blickte sie in den Spiegel.
»Wittgenstein?«
»Du hast dich heute von deinen Gefühlen leiten lassen.«
»Ich hatte nicht unrecht«, verteidigte sich Alice und wusste, worauf Wittgenstein anspielte. Dieser Idiot von Kommissar. Nicht einmal Zeugen hatte er befragt, nicht einmal sie hatte er gefragt. Dabei hätte Alice etwas zu sagen gehabt. »Dieser Kommissar hat keine Ahnung, was da vor sich geht. Er hat keine Zeugen befragt, keine Spuren aufgenommen. Sie haben nur ein paar Fotos gemacht. Sie wissen nichts von den Eistoten. Dieser Kommissar wollte nur so schnell wie möglich wieder in die warme Stube.«
»Und was hat es dir gebracht, dass du ihn beleidigt hast? Eine Sekunde Befriedigung und endlose Probleme.«
»Was für Probleme?«
»Das wirst du schon bald selbst merken.«
»Warum musst du eigentlich immer in Rätseln sprechen?Kannst du nicht klar heraus sagen, was du weißt. Das wäre doch einfacher.«
»Ich kann nicht mehr sagen als das, was du schon weißt.«
»Wenn ich es aber schon weiß, dann brauche ich nicht mit dir zu reden.«
»Das ist ein Wissen, das da ist, aber noch nicht in deiner Hand. Wie Wasser in einem tiefen Brunnen.«
»Und warum sehe ich dich?«
»Du siehst durch die Bücher. Du siehst durch sie hindurch in die Zeit, in der sie geschrieben wurden. Jedes Mal, wenn du ein Buch aufmachst, öffnet sich eine Welt.«
»Ich sehe nur dich?«
»Du siehst viel mehr, aber du erkennst sie noch nicht.«
Aristoteles im Skianzug.
»Aristoteles liebt Schneepisten und Seilbahnen.«
»Moment, du kannst meine Gedanken lesen.«
»Ob du es aussprichst oder denkst, beides ist Sprache. Das macht keinen Unterschied.«
»Aber warum kommst du zu mir? Ich meine, es gibt Millionen von Menschen, die dich lesen.«
»Es gibt gar nicht so viele, die Bücher lesen, wie du sie liest. Für dich ist alles eine Wirklichkeit, und die Philosophen sind die höchste Realität. Sie machten die schönsten Dinge, aber auch die gefährlichsten.«
»Was für gefährliche Dinge?«
»Es gibt Philosophen, die dich lehren zu leben und die Welt zu verstehen, und es gibt gefährliche Philosophen. Es sind die dunklen. Sie tauchen in jedem Zeitalter auf, und sie hinterlassen brennende Welten. Nimm dich in Acht vor ihnen.«
»Warum bist du gekommen?«
»Ich lief lange im Schneesturm draußen …«
»Weißt du, wer das Mädchen umgebracht hat?«
»Ich weiß nicht mehr als du, und wenn ich es wüsste, dann dürfte ich es dir nicht sagen.«
»Wer verbietet dir das?«
»Das ist das Gesetz.«
»Was für ein Gesetz?«
»Hör zu, Alice, du wirst noch früh genug verstehen, warum wir dich auserwählt haben.«
»Wer hat mich auserwählt? Ich bin nur ein elfjähriges Mädchen.«
»Du bist viel mehr, Alice, viel mehr, als du denkst. Ich muss jetzt gehen.«
Es klopfte an
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