Die Eistoten: Thriller (German Edition)
aus dem Gedächtnis Hinterecks verschwinden würde, wie sie gekommen war. Doch dass jemand es gewagt hatte, eine Leiche an ihre Kirche zu stellen, nachdem diese an Weihnachten schon beschmiert worden war, brachte den Bürgermeister Gustav Olsteig bei seiner öffentlichen Erklärung im Gemeindehaus zu einem Wutanfall: »Kruzifixhalleluja. Das ist wegen dene Preißen und ihrem Sauhotel. Erst verschandeln sie den Berghang, und jetzt stellen sie uns Tote vor die Kirche.«
»Du hast dem Hotel doch zugestimmt. Der Fortschritt, hast du geplärrt, und jetzt hast du den Fortschritt.«
»Halt die Bappen, wenn du keine Ahnung hast«, stutzte der Bürgermeister den Gemeinderatsprecher Hinterecks zurecht. »Ich habe der touristischen Nutzung unseres Dorfes zugestimmt. Von einem Hotel war nie die Rede. Das haben die da in Hindelang über unsere Köpfe entschieden.«
Wenn der Fall Wellen schlug, dann waren in ein paar Stunden das Fernsehen und das Radio da. Schließlich hatte jedes Nest inzwischen schon seinen Lokalsender. Spätestens nach der ersten Pressemitteilung der Polizei. Das würde mindestens noch einen Tag dauern. Keiner hatte bisher von Mord gesprochen.Niemand erwähnte die Eistoten. Es war so, als suchte man krampfhaft nach einer Erklärung, wie die Tote an die Kirchenmauer gekommen war und wie es sein konnte, dass sie aufrecht stand. Unter den Zuschauern, die trotz Eiseskälte ausharrten, sprach jemand von Eistwister. Das waren Fallwinde aus eisiger Höhe, die an den Berghängen herunterglitten. Minus 70 Grad. Da blieb man nur kurz stehen und fror ein.
»Wenn die Toten mit offenen Augen die Lebenden anstarren, dann geht der Gangerl um.«
Niemand der Touristen beachtete die alte Grundinger, als zwei Beamte in Zivil die starre Leiche wie eine Heiligenfigur auf ihren Schultern zum Leichenwagen trugen. Alice musste an die Faschingsumzüge denken, bei denen lebensgroße Teufel und Pappköpfe der Berliner Politik durch die Straßen getragen wurden. Verzweifelt suchten die beiden Beamten eine geeignete Position, um die Leiche in den Alusarg zu legen. Die Krümmung der Knie und die verschränkte Haltung der Arme verhinderten, dass sie den Deckel schließen konnten. Keiner wollte riskieren, mit Gewalt einen tiefgefrorenen Arm abzubrechen. So blieb der Alusarg offen.
Alice sah noch einmal zu der Toten im Leichenwagen. Schneekristalle waren auf ihrem Gesicht geschmolzen. Es sah aus, als ob sie weinte. Alice hob ein wenig ihren Arm wie zum Gruß. Sie wusste nicht, warum, aber sie wollte sich von der Toten verabschieden.
Ich finde ihn. Verlass dich drauf.
Der Leichenwagen schloss sich. Mit der Toten verschwanden auch die Schaulustigen. Nur Pfarrer Bez stand noch vor dem Eingang der Kirche und unterhielt sich mit dem Kommissar, der Alice so angeraunzt hatte. Der Pfarrer nickte so selbstverständlich, wie die Sonne auf das Nichts des Schnees schien. Ihr Vater war noch mit dem Absperrband beschäftigt. Alice hofftenur, dass Tom den Namen und die Adresse des Journalisten herausgefunden hatte. Sie warf einen Blick über den Kirchplatz. Kein Wittgenstein, kein Aristoteles in engen Langlaufhosen. Wohin sich Wittgenstein nur verdrückte, wenn sie ihn nicht sah?
In diesem Augenblick hörte sie zwei laute Stimmen. Die Stimme ihres Vaters, dann nur noch den Kommissar. Noch nie hatte sie gehört, dass jemand so ihren Vater anblaffte.
»… ich muss gar nichts, und jetzt gehen Sie mir aus dem Weg.«
»Wir haben nicht jeden Tag tote Kinder in unserem Dorf. Ich sage ja nur …«
»Und ich sage Ihnen ja nur, dass Sie sich um die Falschparker kümmern sollen und um besoffene Skitouristen, die mit ihren Sommerreifen im Schnee steckenbleiben. Lassen Sie mich meine Arbeit tun.«
»Meine Arbeit ist es, für Ordnung zu sorgen …«
»Sagen Sie«, fauchte der Kommissar, wobei sein rundes Gesicht rote Flecken bekam, »liegt das an diesem Scheißkaff hier, oder sind Sie von Natur aus so begriffsstutzig? Sie haben gar nichts zu melden, und wenn ich Ihnen sage, dass Sie diese Sache nichts angeht, dann haben Sie das zu schlucken. Ob Ihnen das nun gefällt oder nicht.«
»Dieses Scheißkaff ist mein Heimatort, Herr Kommissar.«
»Schauen Sie, dass Sie Land gewinnen, wenn Sie noch an Ihrer Rente interessiert sind. Ich fasse es nicht. Provinzheini.«
Scheißkaff … Alice konnte da gar nicht widersprechen. Recht haben war eine Sache, aber recht haben und das Recht haben, es auch zu sagen, war eine andere. Schließlich kam Wittgenstein nach
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