Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Schnee.
Alice erinnerte sich nur noch, dass sie hinter den Buden herumlaufen wollte. Die Abkürzung … Da hatte sie etwas am Kopf getroffen. Sie fasste sich an den Hinterkopf und zog ihre Hand sofort zurück. Die Wunde schmerzte, und auf ihren Fingerspitzen war Blut. Was hatte sie getroffen? Ein Eiszapfen von einem Dach? Jedes Jahr starben Leute durch herabfallendes Eis und Dachlawinen. Im letzten Jahr hatte eine Dachlawine einen Kinderwagen zerdrückt. Das Baby überlebte wie durch ein Wunder.Doch Alice fand weder Schnee noch Eisreste. Sie rappelte sich auf. Ihre Beine waren wackelig und fühlten sich an, als wären sie mit Stroh gefüllte Säcke.
An der Bushaltestelle verdichtete sich das Gedränge. Wieder Flüche, Gezeter und schlimmere Flüche als Kruzifix Halleluja. Alice konnte nicht glauben, dass sie gestürzt und mit dem Kopf auf das Trottoir geschlagen war. Sonst könnte sie sich an den Sturz erinnern, aber da war nichts. Da raste nur der Schnee auf sie zu, und dann war auch schon die Kälte auf ihrer Stirn. Keine Spuren einer Dachlawine oder eines Eisbrockens, der auf sie herabgefallen war. Der Verdacht, den sie jetzt hatte, schnürte ihr den Magen zu. Jemand hatte sie niedergeschlagen. Jemand, der die ganze Zeit hinter ihr war und den sie nicht gesehen hatte. Jemand, der auf eine günstige Gelegenheit gewartet hatte, um ihr den Schädel einzuschlagen.
In diesem Augenblick wusste Alice, dass es jemand auf sie abgesehen hatte. Jemand wollte sie tot sehen. Ihre Beine waren immer noch kraftlos. Sie streckte ihre Arme vor sich wie eine Blinde, dann sackte sie zusammen. Sie hörte noch eine Frau aufschreien und wie die Bustüren sich schlossen. Sie kippte zur Seite, doch diesmal fiel sie nicht. Der Schneematsch auf dem Boden blieb in unveränderter Entfernung, obwohl sie sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte.
Der Griff an ihrem Oberarm war fest. Er verhinderte, dass sie in den Dreck kippte.
»Alice, was ist mit dir los?«, hörte sie eine vertraute Stimme. »Hast du zu viel Glühwein getrunken?«
Alice blickte in das erstaunte Gesicht Lehmkos. Er stand in der Reihe der Leute, die in den Bus einsteigen wollten, es aber nicht geschafft hatten.
»Es geht schon wieder«, sagte Alice. Blöder konnte es gar nicht passieren, dass sie ausgerechnet ihrem Lehrer begegnen musste,der beim nächsten Elternabend ihrem Vater erzählen würde, wie er sie aufgefangen hatte.
»Ich glaube, du blutest am Kopf.«
Alice fasste sich an den Kopf. Unter dem Haaransatz über dem Ohr hatte sich eine Beule gebildet. Weit und breit nichts, was nach einem Gegenstand aussah, der sie am Kopf getroffen haben konnte. Drei Stockwerke über ihr, an der Dachrinne, hingen Eiszapfen. Doch wenn eines dieser Dinger abgebrochen wäre, dann hätte es zuerst eines der Budendächer durchschlagen. Vielleicht hatte jemand eine der Glühweintassen einfach in die Menge geworfen. Doch am Glühweinstand hielten die Besucher nur Pappbecher in der Hand. Irgendetwas aber hatte sie getroffen, etwas, was vielleicht unter eine Bude gerollt war oder so auffällig vor ihr lag, dass sie es nicht erkannte.
»Ich bin wohl ausgerutscht.«
»Es ist zwar gestreut, aber bei der Kälte friert selbst der Schneematsch wieder.«
»Tauschen Sie Ihre Weihnachtsgeschenke um?«
»Nein«, Lehmko lachte, »ich bin mit Stephan in der Stadt. Er wollte sich noch mit einem Freund treffen und dann seinen Büchergutschein einlösen.«
»Was liest Stephan denn?«
»Das musst du ihn selbst fragen. Mit sechzehn ist natürlich alles ein Geheimnis. Deshalb auch der Kaufgutschein. Da kann er sich für dreihundert Euro Bücher seiner Wahl kaufen.«
»Bücher, die noch nicht in der Lehrerbibliothek stehen.«
Lehmko lachte. »Unser Haus ist zwar von oben bis unten mit Büchern vollgestopft, aber es fehlt immer das Buch, das man gerade lesen will. Und man kann ja auch nicht nur Klassiker lesen oder alte Schinken wie Homer, Dostojewski, Schiller und Goethe.«
Oder Platon, fügte Alice in Gedanken hinzu. Homer hattesie noch nicht gelesen. Es gab noch viel, was sie nicht gelesen hatte, es gab noch viele tote Autoren, die noch nicht wieder zurückgekehrt waren. Und wenn sie nicht die Einzige war, die Wittgenstein sehen konnte?
»Eine Bibliothek im Haus …« Das war für Alice eine wärmende Vorstellung. Warum konnte ihr Vater kein Privatgelehrter sein? Warum war ihr Zuhause ein buchloser und gedankenloser Ort? Es machte keinen Unterschied, ob man als Katze oder als Mensch in
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