Die Eistoten: Thriller (German Edition)
fragte sich, warum denkende Menschen sich zu solch komischen Gesten hinreißen ließen. Für sie war die Antwort zunächst eindeutig: Es handelte sich nicht um denkende Menschen. Wer auch immer da Amalias Hintern tätschelte, befand sich in einem Stadium einfachen Säugetierverhaltens. Paarungsrituale, wie man sie bei allen Primaten beobachten konnte. Wittgenstein hätte nur den Kopf geschüttelt. Die Frage, warum sich die Hände von Amalias Liebhaber auf ihrem Hintern wohlfühlten, war nicht mit Logik zu beantworten. Ein denkender Mensch … Alice wäre fast vor Schreck zusammengezuckt, als die beiden ihre Lippen voneinanderlösten und sie sah, zu wem die Hände auf ihrem Hintern gehörten, zu Stephan Lehmko, dem Sohn von Doktor Adibert Lehmko, ihrem Klassenlehrer.
Lehmko war vier Jahre älter als Alice, aber sein Ruf als einziger Schüler, der in jedem Fach Klassenbester war und als wandelnde Bibliothek galt, war legendär. In Alices Alter hatte er bereits die Wurzel aus 2 bis auf 50 Stellen nach dem Komma berechnen können und sich mit irrationalen Zahlen beschäftigt, während seine Mitschüler sich noch mit dem Einmaleins herumplagten. Das einzige Fach, das ihm Sorgen bereitete, war Sport. Stephan Lehmko hatte lange dünne Gliedmaßen und wirkte wie eine Giraffe, wenn er ging. Er konnte nicht sprinten oder an Geräten turnen, dafür war er im Langstreckenlauf unschlagbar. Wie konnte jemand, der schon mit elf Jahren wusste, was eine Quadratwurzelspirale war, sich mit Amalia abgeben? Einem Menschen, der nur Frisuren, Handtaschen und stumpfsinnige Fernsehserien kannte?
Alice wartete in ihrem Versteck, bis die beiden außer Sichtweite waren. Vorerst würde sie dieses Geheimnis noch für sich behalten. Es ist immer gut, Informationen in der Hand zu haben, von denen der Feind nicht wusste, dass man sie hatte. Sunzi: Die Kunst des Krieges.
Dann war die Gasse auf einmal leer. Schneeflocken trieben durch die eisige Luft, und plötzlich war ihr kalt. Die leere Gasse blickte in sie, wie Selbstmörder in den Abgrund blicken. Die Geschehnisse der letzten Tage tauchten vor ihr auf. Die toten Hunde, das unbekannte tote Mädchen im Dorf, das dann vor der Kirche gefunden wurde, und der Mörder, der irgendwo in Hintereck darauf wartete, dass er Alice mundtot machen konnte. So wie er es mit dem Journalisten gemacht hatte. Ein Unfall, pah, wie viele der Todesfälle in Hintereck. Mulder war an einer Stelle abgestürzt, wo man nur abstürzte, wenn man es daraufanlegte. Und dann ihre Mutter. Gestürzt und bewusstlos am Heiligen Abend, erfroren, vor vier Jahren. Sie gehörte ebenfalls zu den Eistoten, und wenn Alice nicht aufpasste, dann stand auch ihre hartgefrorene Leiche bald im Schnee. Seit Jahren starben Menschen im Umkreis von Hintereck, am Heiligen Abend, zu Tode gefroren. Erstarrt wie Puppen. Und irgendwo musste es einen Zusammenhang zwischen den Schmierereien auf der Kirchenpforte und den Morden geben. Was hatte die 11 zu bedeuten? Es gab einen im Dorf, der mehr wusste, der vielleicht die ganze Wahrheit kannte: Pfarrer Bez. Doch der Pfarrer schwieg. Er schwieg für die Bösen und für die Guten, für die Lebenden und für die Toten. Denn Gott hatte sich schon lange von Hintereck abgewandt.
Alice verließ ihr Versteck. Niemand war hinter ihr. Kein weiß geschminkter Clown, der sie aus dem Bus anstarrte.
Alice, was war, wenn du nun wirklich verrückt bist? Wenn sie recht haben und du Dinge siehst, die es gar nicht gibt? Nur Verrückte können tote Philosophen sehen. Nur eine Verrückte kann sich mit dem toten Wittgenstein unterhalten.
Sie rieb ihren Hinterkopf. Die Beule schmerzte.
Sie hatte Glück. Ihr Vater war noch nicht da, als sie die Praxis erreichte. Sie setzte sich auf die Stufen vor die Praxis, so konnte sie sagen, dass sie lieber draußen gewartet hatte. Ihr Herz schlug wild. Die Stille des Treppenhauses breitete sich wellenartig aus. Mit einem Mal fühlte sie sich allein. Wie ein Stein auf den kargen Gipfeln. Er wartete Tag und Nacht, unter Gewittern, eisigen Stürmen, er wartete, bis Millionen von Jahren vergingen, bis von ihm nur noch Staub übrig war.
23.
»Das ist nicht witzig, Alice«, sagte ihr Vater in seinem strengen Polizistenton, als hätte er einen Dieb auf frischer Tat erwischt, »das ist ganz und gar nicht witzig, was du mit Amalias Haaren gemacht hast?«
»Was soll ich gemacht haben?«, fragte Alice und blieb seelenruhig. Nur nicht die Nerven verlieren. Amalia trug ihre Mütze selbst zu Hause.
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