Die Eistoten: Thriller (German Edition)
In ihren Augen standen Tränen. Vielleicht hätte Alice ihr doch keinen wasserfesten Komponentenkleber in die Haarlotion geben sollen. Was soll’s. Haare wuchsen nach, und für Amalia war es eine Lektion.
Nur eines störte Alice. Sie musste jetzt lügen. Tat sie es nicht, würde ihr Vater den Aufenthalt in der Klapse auf unbestimmte Zeit verlängern, und alle hätten noch ein gutes Gewissen dabei.
»Ich weiß genau, wenn mich jemand anlügt, Alice. Das ist mein Beruf.«
Sie hielt mühelos dem Blick ihres Vaters stand. »Wenn du immer weißt, ob jemand lügt oder nicht, dann braucht man ja so etwas wie Beweise nicht mehr.«
»Ich werde mit dir darüber nicht diskutieren.«
»Jeder hat das Recht, sich zu verteidigen. Nur ich darf mich nicht verteidigen. Aber kann Amalia mir nicht endlich mal sagen, was denn mit ihren Haaren passiert ist. Sie trägt ja selbst im Haus eine Mütze.«
»Du verrücktes Monster!«, schrie Amalia aus der Küche und rannte nach oben.
»Was hat sie denn?«
»Du hast ihr etwas in ihre Haare getan, irgendein Mittelchen, das ihre langen Haare wie Besenborsten abstehen lässt.«
»Sobald etwas mit Amalia geschieht, reicht schon ein Verdacht,dass ich es war. Und du sagst auch noch, dass ich lüge, ohne jeden Beweis. Das ist nicht fair.«
»Was du gemacht hast, ist auch nicht fair.«
Sie konnte hier gar nicht anders als lügen. Es handelte sich um eine Notwehrsituation. Lüge oder Gummizelle. Die Lüge war in diesem Sinne weder schlecht noch gut, und sie war am wenigsten unlogisch.
»Nur weil Amalia vielleicht das falsche Haarspray verwendet hat, bin ich noch keine Lügnerin. Solange die Schuld eines Angeklagten nicht eindeutig nachgewiesen ist, gilt er als unschuldig.«
»Dieses naseweise Geschwätz geht mir auf den Geist. Es wird Zeit, dass du dich wie eine normale Elfjährige aufführst.«
»Schließlich bin ich die Tochter eines Polizisten.«
Ihr Vater stöhnte auf und winkte ab. »Du musst ja immer das letzte Wort haben.«
Durch die offene Badezimmertür sah sie Amalias Frisur. Die Mütze hatte die Haare zusammengedrückt, so dass sie wie verwelktes Schilf aussahen.
Zehn Minuten später erreichte sie Toms Nachricht auf ihrem Handy.
Ich habe alles, um was du mich gebeten hast. Es kann losgehen. Jetzt muss noch einer von uns unauffällig in die Kirche.
Es wurde dunkel. Die Temperatur fiel schlagartig. Minus zwölf Grad. Der Wetterbericht im Radio sagte voraus, dass die Temperaturen heute und morgen in der Nacht bis auf minus fünfundzwanzig Grad sinken würden. Alice ahnte, dass mit der eisigen Kälte etwas Böses in Hintereck erwacht war.
Tom meldete sich nicht. Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar. Amalia wusch sich im Badezimmer die Haare. Aus der Küche hörte sie ihren Vater am Telefon sprechen. Esgab offenbar einen Hinweis auf die Identität des Mädchens. Wie war es nur möglich, dass ein elfjähriges Mädchen nicht schon früher vermisst wurde? Und das an Weihnachten. Alice musste an die Eltern denken, die plötzlich die Nachricht erhielten, dass ihre Tochter tot aufgefunden worden war. Unter dem Weihnachtsbaum die unausgepackten Geschenke. Vom nächsten Morgen an einen Teller weniger auf dem Tisch. Ein leeres Kinderzimmer voller Erinnerungen … Sie versuchte mehr von dem Gespräch mitzubekommen, doch ihr Vater redete sehr leise. Sie verstand nur Gesprächsfetzen. Es handelte sich offenbar um ein Mädchen aus Sonthofen. Die Eltern waren auf einer Kreuzfahrt und konnten nicht erreicht werden. Die Worte »zwanzigster Hochzeitstag« fielen. Die Eltern standen an der Reling des Luxusdampfers und feierten die Überquerung des Äquators. Sie erinnerten sich daran, wie sie sich kennengelernt hatten, an den Heiratsantrag und an die Geburt ihrer Tochter. Sie malten sich die Zukunft ihrer Tochter aus, betrachteten den Horizont und stellten sich als graue Großeltern vor. Wo sie auch waren, das Kreuzfahrtschiff hatte sie auch weit von ihrer eigenen Realität gebracht. Alice fragte sich, was schlimmer gewesen wäre: die Eltern, die beide bei einem Schiffsunglück à la Titanic für immer verschwanden, und die Tochter bliebe alleine zurück, oder das Kind starb, und die Eltern lebten weiter? Es war unsinnig, sich solche Fragen zu stellen, genauso fruchtlos war die Frage nach dem Sinn des Lebens. Für Wittgenstein waren diese eigentlich kein Fragen, sondern versteckte Wünsche. Der Wunsch, dass das Leben einen Sinn hat. Und so wie das Leben keinen hatte, hatte auch
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