Die Eistoten: Thriller (German Edition)
der Tod keinen.
Das Mädchen kam aus Sonthofen und verbrachte die Ferien nicht mit den Eltern. Wie konnte es einfach verschwinden? Wie kam es in den Wald nach Hintereck, und warum hatte der Mörder die gefrorene Leiche vor die Kirche gestellt? Leise stieg Alicedie Holztreppen hinauf. Bei jedem Schritt überlegte sie sich, wie sie ihrem Vater erklären konnte, dass sie kein traumatisiertes elfjähriges Mädchen war, das seine Mutter verloren hatte. Alice hatte wenige Erinnerungen an ihre Mutter. Die war Teil einer Welt, die es nicht mehr gab, einer Welt, die mit dem Mord erloschen war.
In ihrem Zimmer war kaum Licht, und die Bücher auf den Regalen unterschieden sich kaum von der Tapete. Alice hatte gerade ihren Finger auf den Lichtschalter gelegt, als jemand hinter ihr auftauchte.
»Bitte kein Licht«, sagte eine heisere Stimme. »Es gibt Tage, an denen ich kein Licht vertrage.«
Alice zuckte zusammen. Sie hatte sich vor Schreck auf die Zunge gebissen. Wittgensteins mageres Gesicht. Er saß auf dem Korbstuhl im Eck und blätterte in einer Geo-Zeitschrift. Sie hätte ihm am liebsten ein paar Kruzifix-Halleluja-Flüche an den Kopf geworfen, ausreichend, um ein paar Jahrhunderte vor dem Paradies anstehen zu müssen.
»Können Sie nicht so auftauchen, dass ich mich nicht jedes Mal zu Tode erschrecke?«
»Entschuldige, Alice. Ich warte schon eine Weile. Heute ist so ein Tag, an dem ich weder Licht noch Dunkelheit ertrage. Mein Kopf tut mir weh. Ich vertrage einfach keine Donnerstage. Ich habe ein existenzielles Problem mit diesem Tag.«
»Heute ist aber nicht Donnerstag, sondern Mittwoch.«
»Mittwoch ist noch schlimmer, weil es der Tag vor dem Donnerstag ist und ich an nichts anderes mehr denken kann als an den Donnerstag.«
Alice fasste sich an ihren Hinterkopf. Die Beule war heiß und schmerzte.
»Ich habe andere Probleme. Jemand hat mich verfolgt in der Stadt, und dieser Jemand hat wahrscheinlich versucht, mir denSchädel einzuschlagen. Nun, vielleicht bin ich auch gestürzt und habe mir alles nur eingebildet.«
»Donnerstage sind die schlimmsten aller Tage.«
»Hören Sie mir überhaupt zu?«
Wittgenstein murmelte vor sich hin, belanglose Wörter, so als führte der Mund ein eigenständiges Leben.
»Du bist in großer Gefahr«, sagte der Philosoph plötzlich.
»Ich weiß. Ein Mädchen ist ermordet worden. Die Polizei glaubt, dass es sich wieder um einen Unfall handelt. Wie bei den anderen Eistoten. Aber ich weiß, dass er unter uns lebt, und er wird weiter morden, bis ihn jemand aufhält. Er weiß, dass ich auf seiner Spur bin. Ich bin die Einzige, ich und Tom. Verstehen Sie? Er wird alles tun, um mich zum Schweigen zu bringen.«
»Ach, nein, ich rede nicht von Mördern und dergleichen.«
»Von was für einer Gefahr reden Sie dann?«
»Von einer größeren dunkleren Gefahr. Etwas, was nicht nur einen Menschen tötet, sondern Tausende.«
»Tausende?«
»Dunkle Ideen, uralt, die aus den Archiven der Menschheit wieder an die Oberfläche kommen. Sie nehmen Gestalt an, sie formieren sich unter den Augen aller, ohne dass jemand sich dessen bewusst ist. Es sind Spektren. Sie verfolgen dich.«
»Wenn mich jemand verfolgt … Der Clown auf dem Trottoir und dann im Bus. Er war nicht wirklich. Ich hatte den Eindruck …«
»… dass nur du ihn sehen kannst.« Wittgenstein nickte. »Es gibt sicherlich noch mehr, die ihn sehen können. Aber die wenigsten verstehen, dass es sich um etwas anderes handelt. Sie wissen nicht, dass etwas Nicht-Menschliches vor ihnen ist.«
»Menschlich sah er aus …«
»Der weiße Clown ist nur eine Art Platzhalter. Also für Dinge,die wir nicht verstehen. Was dahinter ist, kann niemand so genau sagen. Die alten Philosophen nennen es ›Eidos‹. Bei den alten Griechen bedeutete dies Gestalt oder Form. Aber es ist noch mehr. Das Eidos ist eine Urform, die alles formt, was auf der Erde ist. So stellten es sich jedenfalls Aristoteles und Platon vor. Heute nennt man es nur noch harmlos ›Idee‹. Doch im Grunde, weiß keiner genau, was sich dahinter verbirgt.«
»Und warum der Clown?«
»Das musst du dich selbst fragen. Der weiße Clown ist die ernste Gestalt, er ist eine autoritäre Person. Er tritt nicht allein auf, sondern immer in Begleitung mit dem dummen August. Der weiße Clown setzt den dummen August in Szene, bleibt aber selbst im Hintergrund. Nicht über ihn lachen die Zuschauer, sondern über den dummen August. Den Tollpatsch. Sieht man es von einer anderen Seite,
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